Michael Rothberg

Multidirektionale Erinnerung

Ausgabe: 2022 | 2
Multidirektionale Erinnerung

Michael Rothbergs Beitrag zur Erinnerungskultur wurde und wird intensiv diskutiert. Seinen Thesen wurde dabei bereits fundierte Kritik entgegengebracht, die teilweise in dem Band reflektiert wird.

Das Konzept der multidirektionalen Erinnerung soll  neue Wege eröffnen, eine Vielzahl von Erinnerungen „zu erkennen und gleichzeitig zwischen den verschiedenen Ansprüchen, die sie erheben, zu unterscheiden. Der Sinn meiner Vorstellung von Multidirektionalität besteht nicht darin, die Besonderheiten verschiedener Geschichten – und schon gar nicht die des nationalsozialistischen Genozides – auszulöschen, sondern darauf hinzuweisen, dass wir als Individuen und Träger kultureller Erinnerungen in der Lage sind, uns an mehr als eine Geschichte gleichzeitig zu erinnern und zwischen den verschiedenen Erinnerungen unterscheiden können, sei es aus ethischer, politischer oder einfach historischer Perspektive. Es geht nicht darum, die deutsche Erinnerung und Verantwortung für den Holocaust auszulöschen, sondern sie mit der Erinnerung an andere einschneidende Episoden der nationalen und transnationalen Geschichte zu ergänzen – nicht zuletzt die des deutschen Kolonialismus.“ (S. 22)

Rothberg zeigt, dass Bezugnahmen der Erinnerungen aufeinander bereits seit der Nachkriegszeit in bestimmten Texten erfolgten. Die Erinnerungen an den Holocaust und die Auseinandersetzungen mit kolonialen Verbrechen wurden immer wieder gemeinsam reflektiert, dies habe die jeweiligen Sichtweisen beeinflusst und Erinnerung geprägt.

Dan Diners These vom Zivilisationsbruch greift Rothberg an. Diner gehe von der Prämisse aus, dass es im Zuge der Aufklärung zwar keineswegs zu einem Ende von Krieg und Gewalt gekommen sei, Krieg und Gewalt seitdem aber auf bestimmten Voraussetzungen beruhten, die durchaus einen rationalen Kern hätten. Daraus würden sich ethische und instrumentelle Schranken des Handelns ergeben, die wiederum ein bestimmtes Weltvertrauen begründeten. Diese seien im Holocaust durch geradezu gegenrationales Verhalten durchbrochen worden. Rothberg fragt, ob und inwiefern Sklaverei und koloniale Gewaltpraktiken nicht auch einen Bruch in der Weltwahrnehmung und im Weltvertrauen der Opfer dargestellt hätten.