Macht euch die Erde untertan - Wallraffs Widerrede

Ausgabe: 1988 | 1

Mit Aufmerksamkeit nehmen wir in diesen Tagen zur Kenntnis, wie sich die evangelische Kirche der DDR inmitten eines totalitären, unmenschlichen Regimes zum Fürsprecher einer zunehmend kritischen Bevölkerung macht, die die Willkür der Herrschenden nicht mehr hinnehmen will. Es herrscht Unruhe im Land, und vieles deutet darauf hin, daß die Mächtigen unter dem wachsenden Druck der öffentlichen Meinung - vorerst verunsichert - das Keimen und Wachsen demokratischer Strukturen zur Kenntnis nehmen müssen. Daß die Kirche nicht nur im Osten, sondern auch hierzulande sich zum Sprachrohr der Verzweifelten, Zornigen und Hoffenden machen könnte, das zeigt Günter Wallraff - als Prediger. Nicht von ganz unten, sondern von der Kanzel Zwinglis" aus ergriff er - Haydns "Schöpfung" kontrastierend - am 2. Oktober 1987 das Wort.

Leidenschaftlich, zürnend und besorgt zeigt der stets Unbequeme, daß die sogenannte westliche Zivilisation - auch unter Berufung auf die Aussagen der Bibel - die wissenschaftlichen und technischen Entdeckungen der Menschheitsgeschichte stets zur Sicherung der eigenen Macht, zur Steigerung von Profit und zur Unterdrückung von Mensch und Natur eingesetzt hat. Wallraff geißelt eine Wissenschaft, in der kein Platz ist für Weisheit und Toleranz, und die gerade deshalb unentrinnbar auf die Vernichtung der Erde hinwirkt. Verblendet und überheblich sind wir "allesverplanende Macher" und "überqualifizierte Besserwisser".

Im Blick auf die von uns unterjochten alten (nicht nur indianischen) Kulturen, in denen sich die Menschen nicht als Herrn, sondern als Teil der Natur empfanden, mahnt er: "Wir sind es, die Entwicklungshilfe bitter nötig hätten. Den mit tödlicher Sicherheit falschen Weg gehen Regierungen, die oft nur deshalb gewählt worden sind, weil ihre Vertreter vor den Wahlen versprechen, daß sich nichts ändern wird." Trotz alledem: Wallraff bleibt, versteht man ihn richtig, radikaler Optimist, dem es darum geht, betroffen zu machen, und damit zu bewegen. Sein abschließender Appell erreicht dies ebenso wie eine weitere Predigt "von unten" und ein Text zum Gedenken an Heinrich Böll, dem sich Wallraff zurecht verwandt und verbunden fühlen darf: "Seien wir Realisten: Fordern wir das Unmögliche! Das heißt: gewöhnen wir uns nicht an das zur Gewohnheit gewordene Unrecht und tägliche Verbrechen an der Schöpfung! Unsere Utopien und Träume von heute müssen die Realitäten von morgen sein, sofern es noch eine Zukunft der Menschheit im nächsten Jahrtausend geben soll!"

Wallraff, Günter: Und macht euch die Erde untertan. Eine Widerrede. Göttingen: Stiedl, 1987. 138 S. DM 19,80/sfr 16,60/öS 154,40