Anne Dufourmantelle

Lob des Risikos

Ausgabe: 2019 | 2
Lob des Risikos

Anne Dufourmantelle ertrank am 21. Juli 2017, als sie zwei Kindern, die an einem französischen Badestrand in Gefahr gerieten, zu Hilfe kommen wollte. Die Kinder überlebten. Davor hatte sie das Buch „Lob des Risikos: Ein Plädoyer für das Ungewisse“ fertiggestellt. Dufourmantelle war Psychoanalytikerin und Philosophin und setzte sich vor allem mit dem französischen Poststrukturalismus auseinander, ohne diesem zugeordnet zu werden. Das Buch erscheint wie ein Lebensratgeber, ist aber eher eine philosophische Meditation. Ihre Überlegungen kreisen um ein gemeinsames Thema, bauen aber kein konventionell strukturiertes Argumentationsgebäude auf. Man kann die Kapitel einzeln lesen, man kann sich vom Gedankenfluss der Autorin mitnehmen lassen.

Früh im Buch macht Dufourmantelle klar, worum es ihr geht. „Sein Leben zu riskieren bedeutet womöglich in erster Linie, sich dem Sterben zu verweigern. Einem Sterben zu Lebzeiten, durch verschiedene Formen des Verzichts, schleichende Depressionen und Aufopferung.“ (S. 28) Was sie damit meint: Noch nie haben wir geschützter gelebt als heute in der westlichen Welt. Und trotzdem gibt es immer mehr Stress, Zukunftsangst und die Neigung zu Panik, wie auch Joseph Hanimann im Vorwort schreibt. Ist nicht die Bereitschaft Risiko einzugehen, vom vorgesehenen sicheren Weg abzuweichen, Freiheit zu leben? Und die Idee, ohne Risiko zu leben, ist ohnedies ein Irrtum: „Man muss der Gefahr ins Auge sehen, zumindest diesen Mut sollten wir uns bewahren. Wir können uns von Schmerz, Katastrophen und Trauer erholen, und doch wird immer ein Platz für das Böse bleiben. Wir werden nicht im Voraus erlöst.“ (S. 80)

Risiko, Leidenschaft und Freiheit

Dufourmantelle sieht die Bereitschaft Risiko einzugehen ebenfalls als Bedingung des Widerstandes und damit als Gegenstück zur freiwilligen Knechtschaft. Eng verknüpft sie auch Risiko und Leidenschaft: „Man will Intensität ohne Risiko – unmöglich. Die Intensität setzt den Sprung ins Leere voraus, das Neue, das was noch nicht geschrieben worden ist und genau darauf in uns wartet.“ (S. 57) Die Autorin geht auch dorthin, wo es weh tut: Sie spricht über das Risiko, die Familie zu verlassen, über „unheilbare (Un)treue“.

Immer wieder kehrt sie zum Motiv der Freiheit zurück, Freiheit meine das Sich-frei-machen, keinen stabilen Zustand. Sie setze voraus, dass wir uns unserer Fesseln bewusst sind und dass wir diese Fesseln oft mit unserer Zustimmung tragen. „Die Psychoanalyse vertritt dazu eine eindeutige Meinung. Fast immer sei die Freiheit illusorisch, sie stütze sich auf die vielfältigen Konditionierungen unseres Begehrens, unserer Erziehung, unserer Kultur und Welt. Sie wurzele in einer Ideologie, die dem Subjekt nur eine kurze Flucht gestattet – in einem äußerst beschränkten Raum. Der Raum eines zwangsverwalteten Ichs, das noch seiner eigenen Überwachung giert.“ (S. 102) Und weiter: „Das Risiko der Freiheit einzugehen heißt, die Pascal’sche Wette anzunehmen, der zufolge wir diese Freiheit in der Entdeckung des Unbekannten finden.“ (S. 103)