
Es gilt, sich einen neuen, für die Zukunft wohl wichtigen Begriff zu merken: Limitarismus beschreibt die „Überzeugung, dass wir eine Welt schaffen müssen, in der niemand superreich ist – dass es eine Obergrenze des Reichtums geben muss, den eine Einzelperson haben darf“ (S. 14). Ingrid Robeyns ist Professorin für Ethik an der Universität Utrecht (Niederlande) und gilt als Begründerin des Limitarismus-Konzepts. Ausgangspunkt ihrer Arbeiten ist die Tatsache, dass seit den 1970er Jahren die Ungleichheit weltweit sehr stark gestiegen ist. Der Oxfam-Bericht 2023 zur Vermögensungleichheit hält dazu fest: „Von 2020 bis 2022 waren Einkommen und Vermögen des obersten 1 Prozents doppelt so hoch wie das der übrigen 99% der Weltbevölkerung“ (S. 34).
Wie viel ist zu viel?
Die Frage „Wie viel ist zu viel?“ (Titel des 1. Kapitels) kann nicht für alle Gesellschaften mit einer einfachen Zahl, seien es z. B. 5 oder 10 Millionen Euro, und für alle Gesellschaften gleich beantwortet werden. Der Limitarismus differenziert in eine Wohlstandsobergrenze (ab da bringt mehr Geld keinen Wohlstandsgewinn mehr für den Einzelnen), eine ethische Obergrenze (mehr sollte man aus moralischen Gründen nicht besitzen) und eine politische Obergrenze (ab der der Staat dafür sorgen sollte, dass niemand mehr als diese Schwelle besitzt). Dabei ist es wichtig, dass „es beim Limitarismus nicht um eine Zahl geht; vielmehr geht es um all die Gründe, warum eine Welt ohne Konzentration extremen Reichtums für uns alle besser wäre“ (S. 51).
Extremer Reichtum hält die Armen in Armut, während die Ungleichheit wächst: unter diesem Titel beschreibt das Kapitel 2 wichtige Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, welche zu den heutigen Ungleichheiten geführt haben. Die Armut bekämpfen zu wollen, ohne das Problem der Ungleichheit anzupacken, hat in den meisten Fällen nicht funktioniert. Im Gegenteil scheint es so, als ob immer mehr Einkommen und Vermögen von den unteren Schichten und Mittelschichten hin zu den oberen 10 Prozent, oder extremer noch, zum obersten Prozent hinauffließen (S. 74 ff.).
„Extremer Reichtum stammt aus schmutzigem Geld“ betitelt die Autorin das Kapitel 3. Hierzu zählt sie nicht nur die Gewinne aus Verbrechen gegen die Menschlichkeit (wie z. B. im Gefolge des Nationalsozialismus), Geschäfte von Kleptokrat:innen und korrupten Amtsinhaber:innen, oder Gelder aus „Geschäftspraktiken, die Kunden gezielt schaden“ (z. B. Familie Sackler und die US-amerikanische Opioid-Krise), sondern auch solche, die aus der Missachtung von Arbeitnehmer:innenrechten erwachsen: was hält denn – so fragt sie – die Eigentümer von z. B. Amazon davon ab, „etwas geringere Gewinne zu erwirtschaften und stattdessen bessere Arbeitsbedingungen für ihre über eine Million ‚Mitarbeiter‘ zu schaffen“ (S. 105)? Auch das Thema Steuerhinterziehung gehört hierher, begünstigt durch eine für die Superreichen tätige „Wealth Defense Industry“ aus Steuerberatern, Anwälten, u. a., die ihnen mit Hilfe von Steueroasen und personell schlecht ausgestatteten Finanzämtern Schlupflöcher zur Steuervermeidung (legal) und Steuerhinterziehung (illegal) eröffnen.
Weitere spannende Kapitel behandeln die Zusammenhänge zwischen extremem Reichtum und der Demokratie („in ihren Grundfesten bedroht“, S. 124) oder der Klimakrise („Die Konzentration von Reichtum verschlimmert den Klimawandel auf diverse Weisen“, S. 157). Nach einem stark von ethischen Überlegungen geprägten Kapitel 6 (Titel: Niemand verdient es, Multi-Millionär zu sein) fragt das Kapitel 7, was sich alles mit dem bei Superreichen abgeschöpften Geld machen ließe (Bekämpfen von Hunger in der Welt, des Klimawandels, usw.). Dem in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchenden Thema der Milliardär:innen als wichtige Philanthrop:innen widmet sich das Kapitel 8, ausgehend von der interessanten Eingangsfrage, „wie viel von diesem Geld ist schmutzig?“ (S. 240). Dass auch Superreiche von der Beschneidung ihres Reichtums letzten Endes profitieren könnten, wird im Kapitel 9 aufgezeigt.
Das abschließende Kapitel („Der weitere Weg“) beschreibt eine Reihe von Maßnahmen, die dazu beitragen können, sich dem „regulativen Ideal“ des Limitarismus anzunähern, unter denen auch erwartbare Schritte zu finden sind, wie „schmutziges Geld konfiszieren“ (S. 312) oder „Managergehälter begrenzen“ (S. 313) oder auch der „Vererbung von Vermögen Einhalt zu gebieten“ (S. 316 ff.).
Ein unbedingtes Lese-Muss
Für alle, die sich mit der Frage der wachsenden Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in der Welt auseinandersetzen wollen, ist dieses Buch ein unbedingtes Muss. Es handelt sich um ein akademisches Werk, und ist damit keine einfache, dafür aber eine sehr umfassende Lektüre, die das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeitet und zu vielen Argumenten für eine limitaristische Politik auch gleich mögliche Gegenargumente sowie deren Entkräftung liefert.