Lew Kopelew - Man soll sich keine Feindbilder machen

Ausgabe: 1995 | 2

Die Buchreihe will "keine Heilslehren verkünden, für keine ideologischen und politischen Programme werben. Wir bekennen uns zu den schlichten Grundsätzen, die wir als die wichtigsten Lehren aus der Vergangenheit erachten. Man soll sich keine Feindbilder machen ... Das Ziel unserer Ausgabe, der Sinn unserer Arbeit ist AUFKLÄRUNG". Abgedruckt sind Texte des 20. Jahrhunderts (zumeist deutsche, einige wenige aber auch übersetzt), die auf den ersten Blick sehr disparat erscheinen: z. B. von Schriftstellern/innen wie Böll, Kuriert. Bobrowski, Pavel Kohout, Sergej Awerinzew (geb. 1937), Eva Strittmatter und Christa Wolf; von Politikern wie Rau und Geißler; von Publizisten/innen und Wissenschaftlern/innen.

Ihre Lektüre ergibt aber allmählich und mit zunehmender Intensität ein höchst anregendes Mosaikbild zum Thema "Fremde/Fremdheit". Völlig unvermeidlich bei jeglicher Anthologie (und so auch bei dieser) ist das Nachfragen, warum gerade die abgedruckten Texte ausgesucht wurden und warum andere fehlen. Die Antwort müßte, unter Verwendung eines Diktums von Dieter Kühn (der im vorliegenden Band nicht auftaucht)' lauten: Die Auswahl geschah "streng subjektiv". Das bedeutet: Das Buch trägt die deutliche Handschrift seines Herausgebers Lew Kopelew (geb. 1912 in Kiew). Dessen persönliche Grundsätze werden in seinem engagierten Vorwort, „im Sommer 1993 in Köln geschrieben", von ihm klar ausgesprochen: Geradezu beschwörend warnt er davor, den "Utopisten (Weltverbesserern oder Vaterlandsrettern)" zu glauben und zu folgen - und Kopelew, der ehemalige politische Häftling und Exilant, hat hier persönliche Erfahrungen hinter sich wie nicht viele andere. Auch mißtraut er den Politikern (obwohl er einige zu Wort kommen läßt): Denn bezüglich menschlicher Irrtümer merkt er provokant an, daß etwa Autoren wie "Schiller und Goethe, Dostojewski und Lew Tolstoj ... den Sinn des 19. Jahrhunderts genauer (erkannt hätten) als Napoleon und Metternich, Marx und Bismarck", daß Boris Pasternak klarer über die Vergangenheit Europas geurteilt habe als Lenin oder Roosevelt. Aus dem typographisch liebevoll aufgemachten Buch spricht der fast verzweifelte Optimismus eines unverbesserlichen Humanisten und Liberalen, der trotz allem an die Macht des Wortes und des Argumentes glaubt. - Insgesamt eine sehr zum Nachdenken anregende Textsammlung (die sich auch gut als Geschenk eignet).

U. M. 

Mit dem Fremden leben? Forum XXI. Erkenntnisse, Träume, Hoffnungen zum 21. Jahrhundert (Band 1). Hrsg. v. Lew Kopelew Köln: Bund-Verlag, 1994. 2-935., ca. DM I sFr 50,- I ö5 389,-