Krieg auch in den Wohlstandsgesellschaften

Ausgabe: 1994 | 1

Krieg gibt es nicht nur in der Dritten Welt, auch an den Peripherien des Nordens sprechen wieder die Waffen. Und - so die These Enzensbergers - auch in den reichen Zentren der Wohlstandsgesellschaften hat der "molekulare Bürgerkrieg" bereits begonnen. Die Straßenschlachten von Los Angeles sind ihm dabei ebenso Beleg wie der neue Terror von rechts in Deutschland. Doch - ob Guerillabewegung im Drittweltstaat oder Jugendrevolte in der reichen Metropole - nicht mehr Ideologien oder Überzeugungen seien das Motiv des Aufbegehrens, sondern blinde Destruktivität: "Das Gemeinsame der großen und kleinen Bürgerkriege ist der Autismus der Gewalt und die Neigung zur Selbstzerstörung, zum kollektiven Amoklauf. " Nicht in der Psychologie sucht der Autor nach Antworten, sondern in der Krise der Moderne und ihrer Ökonomie, wenn er in Anlehnung an Hannah Arendt von ausgegrenzten, "überflüssigen Menschen" spricht, deren Zahl rapide zunimmt. Vor diesem Hintergrund ist auch Enzensbergers Polemik gegen die "Rhetorik des Universalismus" und der allgemeinen Menschenrechte zu verstehen, die bereits im Spiegel-Vorabdruck für heftige Auseinandersetzung gesorgt hat. Die Schere zwischen den geforderten Ansprüchen und deren Einlösung klaffe täglich weiter auseinander: "Die Moral ist die letzte Zuflucht des Eurozentrismus. "

Der Essayist plädiert für Selbstbescheidung. Wir sollten uns von unseren moralischen Allmachtsphantasien verabschieden und unsere Kräfte auf das konzentrieren, "was wir leisten können und wo wir zu haften haben". Etwa: Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen. Ungewöhnlich scharf attackiert Enzensberger die Medien, die uns nicht nur täglich mit Schreckensmeldungen überhäufen und mit schlechtem Gewissen erpressen, sondern in ihrer Sensationsgier zugleich zur Bühne der Terroristen und Gewalttäter geworden sind: "Der Bürgerkrieg wird zur Fernsehserie. " Die mahnenden und zugleich provozierenden Aussagen Enzensbergers lohnen mehrmals gelesen zu werden, sie fordern auch zum Zitieren heraus, nicht nur wegen ihrer sprachlichen Pointiertheit. Etwas irritierend bleibt der fatalistische Schluss, der im Bild vom dauernden Wechsel von Krieg und Frieden, von Vernunft und Unvernunft mündet. Oder ist das die neue Gelassenheit der Postmoderne? H.H.

Enzensberger, Hans M.: Aussichten auf den Bürgerkrieg.

Frankfurt/M.: Suhrkamp, DM 19,80 /sFr 18,20/ÖS 155,-. 1993, 96 S.