Krank in Deutschland

Ausgabe: 2010 | 4

Keine Branche wächst schneller, ist teurer und strittiger als das Gesundheitssystem. In kaum einem anderen Bereich lassen sich so gute Geschäfte machen, sind die Verfilzungen der Profiteure offensichtlicher, die Ohnmacht der PatientInnen und das Versagen der Politik augenfälliger. Renate Hartwig sowie Rainer Fromm und Richard Rickelmann geben Einblick in die Praktiken eines Systems, das ganz offensichtlich mehr und mehr Opfer produziert und sich doch selbst weitestgehend als therapieresistent erweist. Dass ein grundlegend anderes, ganzheitliches Verständnis von Gesundheit möglich ist und jede/r Einzelne für diese ebenso mitverantwortlich ist wie eine zukunftsorientierte Gesellschaftspolitik stellt dagegen der Philosoph Klaus Michael Meyer-Abich zur Diskussion. Walter Spielmann hat sich die Publikationen, die jede Menge Anlass zur Debatte geben, näher angesehen.

 

 

 

Krankes Gesundheitswesen

 

Renate Hartwig legt nach. Nachdem die umtriebige Aktivistin mit bayerischem Widerstandsgeist gegen die Missstände des Gesundheitswesen in Deutschland schon mit ihrem Buch „Der verkaufte Patient“ großer Aufmerksamkeit erzielt und am 7. Juni 2008 im Münchner Olympiastadion eine Großveranstaltung gegen die von der Politik so viel gepriesene „Gesundheitsreform“ mit nicht weniger als 28.000 Teilnehmenden auf die Beine gestellt hatte, wendet sie sich nun ein weiteres Mal an die zunehmend sensibilisierte Öffentlichkeit. Ihr Ziel ist kämpferisch, und es lässt auf Gegenwehr schließen. Denn um nichts weniger geht es der Autorin, als „die politischen Vertuschungsversuche einer gemischten Strippenziehertruppe aus Politik, Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen mit Vertretern der Pharma- und Medizinindustrie“ anzuprangern (S. 9) und Gegenwehr initiieren. Im Tonfall rebellisch, in der Sache aber ernüchternd treffsicher beschreibt die Autorin Missstände, Verwerfungen und Verfilzung einer Megabranche, bei der „jährlich ca. 250 Milliarden Euro auf dem Pokertisch liegen“ (S. 11). Der Umbau des Gesundheitswesens in eine für wenige äußerst profitable Gesundheitsindustrie sei in vollem Gange und werde, wie kein geringerer als Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer einräumt, vorangetrieben. Seehofer, als ehemaliger Bundesgesundheitsminister mit der Materie bestens vertraut, lässt zum Thema keine Zweifel offen, als er in einer Diskussion zum Thema Gesundheitspolitik meinte: „Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.“ (S. 18).

 

Diesen desaströsen Befund zur Qualität des Gesundheitswesens im Besonderen und zum Zustand der Demokratie im Allgemeinen verdichtet Renate Hartwig durch eine Reihe minutiös recherchierter Fallbeispiele. Sie berichtet von „Systemopfern in dieser Republik“, u. a. von Menschen, „die krank sind und plötzlich entdecken, welchen teilweise völlig abstrusen politischen Rahmenbedingungen sie ausgeliefert sind“ (S. 19).

 

Die ProtagonistInnen dieses Reports – seit Jahren auf den Rollstuhl oder andere Hilfsmittel angewiesene Menschen mit Mehrfachbehinderungen, chronisch Erkrankte, aber auch professionelle Opfer wie überfordertes Pflegepersonal und Ärzte, die nicht bereit sind, sich dem Diktat einer zunehmend gewinnorientierten Gesundheitsindustrie zu unterwerfen – sie alle sind Opfer (oder auch unfreiwillige Helden) im Kampf gegen ein zunehmend inhumanes System, das immer weniger Mittel in eine adäquate Versorgung der BeitragszahlerInnen, aber immer mehr Geld in Werbung und Bürokratie investiert. Dass zudem die Einkommen so mancher Krankenkassa-Manager die Einkünfte von Spitzenpolitikern erreichen, obwohl die von ihnen geleiteten Unternehmen so gut wie bankrott sind, ist – neben vielem anderen mehr – der Autorin ein Dorn im Auge. Ihr Fazit:  Gelingt ein Kurswechsel nicht, so steuern wir direkt auf US-amerikanische Verhältnisse zu. Unter dem Schlagwort „Integrierte Versorgung“ gibt es dann in Hinkunft Vorsorge und Spitzenmedizin nur für Privatversicherte; DurchschnittsverdienerInnen dürfen sich auf eine Normalversorgung einstellen, sofern sie in der Lage sind, angemessene Zuzahlungen zu leisten (für Mitglieder des staatlichen ‚Medicare’-Programms sind das zwischen 2.250 und 5.100 US-$ pro Jahr, vgl. S. 226). Für die zunehmend wachsende Zahl derjenigen, die ihr Dasein ohne Vorsorge organisieren müssen, bleibt schließlich, so Renate Hartwig sarkastisch, „die Freiheit, früh zu sterben“.

 

Diesem Weg zu folgen, so das Fazit der Autorin, kann nicht unser Ziel sein. „Solange ich gehen und stehen kann, werde ich dagegenhalten“ (S. 13). Mit diesem Titel liefert sie eine Fülle von Argumenten dafür, warum dieser Einsatz lohnt und breite Unterstützung verdient. W. Sp.

 

 Hartwig, Renate: Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport. München: Pattloch, 2010. 267 S. € 18,00 [D], 18,50 [A], sFr 31,50 ; ISBN 978-3-629-02276-9