70 Prozent positiv, 30 Prozent negativ. Mit dieser Verteilung blickte Mao Zedong auf die Ereignisse während der Kulturrevolution zurück. Inwiefern diese Sicht auf ein spezielles historisches Phänomen repräsentativ für das globale Wirken Maos stehen kann, befindet sich seither innerhalb und außerhalb Chinas im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ebenso wird entsprechend der Vorgabe Maos intensiv diskutiert, worin genau die negativen Ereignisse lagen, wie diese zu bewerten und in Zukunft zu vermeiden seien. Zwei neue Bücher beschäftigen sich nun dementsprechend mit der Nachwirkung Mao Zedongs, des Gründers der Volksrepublik, mit der Rezeption seiner Gedanken und seinem Einfluss auf das heutige soziale Gefüge der Volksrepublik Chinas. Damit befinden sich die Publikationen in Konkurrenz zu einer immer weiter unüberblickbaren Menge an Publikationen zur Volksrepublik, wächst doch parallel zum steigenden politischen, ökonomischen und militärischen Einfluss Chinas in der Welt auch die Zahl der Veröffentlichungen zu historischen Gegebenheiten und deren Rezeption im Reich der Mitte in alle Breiten und Tiefen. Speziell zum Nachwirken Maos sei an deutschsprachigen Publikationen hier beispielsweise die ebenfalls rezente Arbeit des Freiburger Sinologen Daniel Leese genannt („Maos langer Schatten. Chinas Umgang mit der Vergangenheit“, München 2020).
Die zwei zu besprechenden Bücher lassen sich formal bipolar gegenüberstellen. Der holländische Historiker Frank Dikötter legt nach seiner vielbeachteten „People’s Trilogy“ (zur Hungersnot, der frühen Republik und der Zeit bis zum Tod Maos) nun in chronologischer Manier einen vierten, breit angelegten Folgeband über die Zeit nach dem Tode des Obersten Führers vor. Auf über 400 Seiten erstreckt sich in „China after Mao. The Rise of a Superpower“ das Geschehen in breiten Strichen von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart. Konträr dazu liefert der amerikanische Sinologe Jude Blanchette mit seinem ersten Buch „China’s New Red Guards. The Return of Radicalism and the Rebirth of Mao Zedong“ eine kleine aber feine Studie zur Verfasstheit der chinesischen Gesellschaft unter einem bestimmten Blickwinkel, nämlich dem der vielschichtigen Auseinandersetzung mit dem Erbe Maos. Gemein ist beiden Büchern, so viel sei verraten, die unverstellt kritische Sichtweise auf die chinesische Politik und ihre Gesellschaft.
„China after Mao“
Generell mit einem Fokus auf wirtschaftspolitische Fragen unternimmt Frank Dikötter eine Reise durch die Amtsperioden, von dem (oft vergessenen) unmittelbaren Nachfolger Maos, Hua Guofeng, über Deng Xiaoping, Jiang Zemin und Hu Jintao bis hin zu Xi Jinping. Dabei ist seine Schlagrichtung oft einseitig, verengt Diskursräume und hinterlässt trotz zahlreicher Statistiken und erstmaligem Zugriff auf deklassifizierte Dokumente den unangenehmen Eindruck, einer politischen Agenda verschrieben zu sein, mindestens aber einer wertenden Voreingenommenheit nicht mit dem Streben nach wissenschaftlicher Neutralität ausreichend vorbeugen zu wollen. Damit bleibt er der Tradition seiner vorherigen Bücher treu und wird sicherlich seine bisherige Leserschaft behalten können. Dikötters Englisch liest sich aber hervorragend und so werden leicht all diejenigen neue Einblicke erhalten, die vielleicht mit allzu großer Selbstsicherheit dem unvermeidbaren Aufstiegsnarrativ der Kommunistischen Partei Chinas Glauben schenken wollen. Am Ruf Dikötters in Festlandchina (wo seine Bücher nicht erhältlich sind) wird dieses Buch nichts ändern.
„China’s New Red Guards“
Ähnlich kann es wohl auch Jude Blanchette ergehen. Der Ökonom und Sinologe tritt schon seit längerer Zeit ausgesprochen „hawkisch“ gegenüber der Politik Chinas auf und argumentiert auch in dem nun als Taschenbuch vorliegenden Bändchen China gegenüber sehr kritisch. Chronologisch arbeitet er sich in sieben knappen Kapiteln durch verschiedene Phasen der Aneignung und Ablehnung maoistischen Gedankenguts. Angefangen mit der von Deng Xiaoping vorangetriebenen Öffnungspolitik und deren heftigsten Kritikern bis hin zu der offenen Neubekenntnis zu Mao unter Xi Jinping, leuchtet Blanchette nachvollziehbar aus, inwiefern Mao bzw. dessen Adepten das moderne China prägen und wie westliche Akteur:innen auf die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt militärischen Konsequenzen reagieren können.
Mit einigem Recht kann man der Meinung sein, das Handeln und Nichthandeln der Kommunistischen Partei Chinas nur aus ihrer Geschichte heraus nachvollziehen zu können. Frank Dikötter und Jude Blanchette geben uns hierfür reichlich Material.