Gerechtigkeit in der Demokratie

Ausgabe: 2009 | 4

“Es vermag zwar keiner genau zu sagen, was Gerechtigkeit ist. Dass es aber gerecht zugehen muss, daran besteht kein Zweifel.“ (S. 5) Dieses Dilemma benennen die Herausgeber des vorliegenden Bandes, Gotthard Breit und Stefan Schieren, als Herausforderung für jede Demokratie. Genuine Aufgabe der Politik sei es daher, einen permanenten Diskurs über Gerechtigkeit und das, was als gerecht empfunden wird, zu führen. Die hier versammelten Aufsätze, die der Beziehung von Gerechtigkeit zur Demokratie sowie zum Recht, dem Phänomen „gefühlter Ungerechtigkeit“ (in diesem Falle am Beispiel der deutschen Rentner) sowie der Messung von Armut zur Festlegung von Mindeststandards nachgehen, leisten einen wichtigen Beitrag dazu. Der Tenor dabei lautet, dass es zwar keine einheitliche Vorstellung von Gerechtigkeit gibt, dass jedoch ein Austausch darüber stattfinden muss, was einzelne Gruppen als gerecht bzw. ungerecht empfinden. Gerechtigkeit in der Demokratie bedeute demnach zunächst, so etwa Daniel Hildebrand, „Gleichheit an Rechten und Ansprüchen, innerhalb derer die Individuen ihre Verschiedenartigkeit, die stets per definitionem eine Ungleichheit ist, entwickeln“ (S. 27). Der Diskurs über Gerechtigkeit erfordere jedoch weitergehende Befunde: objektivierbare Daten etwa über die Verteilung von Einkommen und Vermögen, die qualitative Beschreibung von Bedingungen, die dem Ziel der Chancengleichheit aller BürgerInnen zumindest nahe kommen sowie die Wahrnehmung „gefühlter Ungerechtigkeit“. So gaben bei einer Allensbach-Umfrage 2008 nur 28 Prozent der Befragten an, in Deutschland gehe es gerecht zu, mehr als zwei Drittel der Bevölkerung empfanden die Lage als ungerecht, und dies obwohl der materielle Wohlstand nie so hoch war wie gegenwärtig.

 

„Gefühlte Ungerechtigkeit“ stimme nicht immer mit der objektiven Lage überein, so etwa Gotthard Breit, zeige aber durchaus Trends an. Den aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung fasst er wie folgt zusammen: „Die gesellschaftliche Mitte schrumpft. Der Reichtum der wenigen ganz Reichen hat sich dramatisch vergrößert. Am unteren Ende der Gesellschaft nimmt die Armut zu.“ (S. 86) Wie Stimmungen die Politik bedrängen können, macht der Experte anhand der Analyse von Leserbriefen anlässlich der Warnung von Altbundespräsident Roman Herzog vor einer „Rentnerdemokratie“ (11. 4. 2008 in der BILD-Zeitung) deutlich, die eine breite Welle der Empörung ausgelöst habe. Obwohl RentnerInnen in Deutschland (von Ausnahmen abgesehen) relativ gut gestellt seien („So wohlhabend wie die gegenwärtige Rentnergeneration wird wohl in Zukunft keine mehr sein.“ S. 88), entfalteten diese eine große politische Macht: „Bei der Bundestagswahl 2009 werden mehr als ein Drittel der Wählerinnen und Wähler über 60 Jahre alt sein und nur 16 Prozent unter 30.“ (S. 96) Nur wenn es gelingt, die „gefühlte Ungerechtigkeit“ zu entkräften, würden notwendige Reformen durchsetzbar, besänftigende „Wohltaten“ würden hingegen die Probleme nicht lösen, sondern langfristig verschärfen, so Breit.

 

 

 

Vermögensbericht

 

Die verbreiteten Knappheitsängste werden auch relativiert durch den ersten umfassenden 2008 publizierten Vermögensbericht der Deutschen Bundesbank. Das deutsche „Reinvermögen“ betrug demnach 2005 (so das Bezugsjahr) 9,2 Bio Euro, mehr als 80 Prozent davon bzw. 5,7 Bio Euro entfallen auf die privaten Haushalte, was durchschnittlich etwa 200.000 Euro pro Haushalt ausmacht. Den größten Teil machte das Sachvermögen aus (4,8 Bio Euro), wobei fast zwei Drittel auf Wohnbauten entfielen. Das Geldvermögen wurde auf 4,3 Bio Euro beziffert, denen 1,5 Bio Euro Schulden gegenüberstanden. Uwe Andersen, dessen Beitrag die zitierten Zahlen entstammen, referiert freilich auch die problematische Vermögenskonzentration (die Verteilung wird mangels empirischer Daten nur indirekt über Repräsentativbefragungen erhoben, und zwar vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung/SVR). Demnach „gibt es für die untere Hälfte der Bevölkerung ein Vermögen nahe Null“, während das oberste Dezil „mit 59 Prozent über die deutliche Mehrheit des Vermögens“ verfügt (S. 78) Da Großvermögen ein Einkommen gerieren, „das auch bei großen Anstrengungen schwerlich konsumierbar ist“, drohe eine „völlig leistungsunabhängige, quasi natürliche Vermehrung“, so Andersen, der eine Erbschaftssteuerreform fordert (S. 79).

 

Zu starke Einkommens- und Vermögensdifferenzen wirken demotivierend und destabilisierend, sie untergraben den sozialen Zusammenhalt, und sie schaffen auch Machtungleichgewichte, da Vermögen auch Einfluss bedeutet und Einkommenshierarchien immer auch „Partizipationshierarchien“ (Andersen) bedingen. Eine faire Verteilung der materiellen Güter ist somit eine wesentliche, wenn auch nicht die einzige Bedingung für eine stabile Demokratie. Dies zeigt der vorliegende Band in aller Deutlichkeit. H. H.

 

Gerechtigkeit in der Demokratie. Hrsg. v. Gotthard Breit ... Schwalbach: Wochenschau-Verl., 2009. 144 S., € 9,80 [D], 10,20 [A], sFr 16,70

 

ISBN 978-3-899744473-6