Steven Levitsky, Daniel Ziblatt

Die Tyrannei der Minderheit

Ausgabe: 2025 | 1
Die Tyrannei der Minderheit

Gerade im zeitlichen Umfeld einer US-Präsidentenwahl kann die Publikation der beiden Harvard-Professoren für Regierungslehre (Governance) dabei helfen, die Besonderheiten des US-amerikanischen Politiksystems besser zu verstehen.

Die vier ersten Kapitel spannen den Hintergrund für die zentralen Analysen des Buches auf. Dabei geht es um wichtige Kräfte des Politischen („Die Angst zu verlieren“ und die „Banalität des Autoritarismus“) sowie die großen Brüche der US-Geschichte, vor allem im Umgang mit den Rechten der Schwarzen. Auf diesem Hintergrund wird dann die ab 2010 zunehmend festzustellende Radikalisierung der Republikanischen Partei beschrieben, welche die Autoren heute als in großen Teilen „antidemokratisch“ bezeichnen (150ff.).

Das nächste Kapitel „Gezügelte Mehrheiten“ kommt zum Schluss: „Nicht die ungezügelten Mehrheiten bedrohen uns heute. Das Problem sind die gezügelten Mehrheiten“ (S.189), also Verfahren, die es einer Mehrheit extrem erschweren, zu regieren und ihre Vorhaben auch umzusetzen. Zu diesen bremsenden Institutionen gehören in den USA u. a. der Oberste Gerichtshof, bei dem auf Lebenszeit ernannte Richter:innen Vorhaben der Regierung durchkreuzen können, oder auch das Wahlmännerkollegium, das letzten Endes den US-Präsidenten/die Präsidentin wählt, völlig unabhängig, ob der Kandidat den „popular vote“ gewonnen hat oder auch nicht. Allein die Ankündigung eines Filibuster-Redemarathons reicht heute schon aus, damit nur 40 Prozent der Senator:innen ein jedes Gesetz verhindern können.

Das Kapitel „„Minderheitsherrschaft“ beschreibt weitere Verfassungsregelungen, die als „nichtmajoritäre Institutionen“ wirken, also als Verfahren, die es einer (sehr oft: republikanischen) Minderheit gestatten über die Mehrheit zu herrschen. Hierzu gehört z. B. die Tatsache, dass das Wahlmännerkollegium die Wahlergebnisse auf zwei Arten und Weisen verzerrt, einerseits durch das Prinzip des „winner takes it all“ und andererseits dadurch, dass die ländlichen Regionen stark überrepräsentiert sind. Auch im Senat ist es so, dass „Bundesstaaten mit zusammen weniger als 20% der US-Bevölkerung […] eine Senatsmehrheit bilden“ (S. 201) können. Durch diese u. ä. Regelungen haben sich – so das Fazit der Autoren – die „Ansichten der ‚gewählten Volksvertreter‘ von den Ansichten des Volks losgelöst“ (S. 210), was z. B. in der Abtreibungsfrage, der Frage nach strengeren Waffenkontrollgesetzen oder auch bei der Festlegung eines Mindestlohns zutreffe.

Wieso das so ist, wird im Kapitel „Sonderfall Amerika“ geklärt. Während im Laufe der Zeit die meisten der heutigen Demokratien mehrheitsverzerrende Regelungen abgeschafft haben (z. B. durch das Frauenwahlrecht, durch Abschaffung von Wahlmännerkollegien und der Einführung des Verhältniswahlrechts statt des Mehrheitswahlrechts), ist dies in den USA nicht passiert. Dort ist eine Verfassungsänderung so gut wie unmöglich, da hierfür jeweils zwei Drittel der Abgeordneten bzw. Senator:innen zustimmen müssen, und anschließend drei Viertel der Parlamente der Bundessstaaten einverstanden sein müssen. Das Ergebnis: zwischen 1789 und 2019 gab es „insgesamt 11 848 Versuche, die Verfassung zu ändern, aber nur 27 waren erfolgreich“ (S. 248).

Das Schlusskapitel „Die Demokratie demokratisieren“ macht Vorschläge dazu, wie die aktuelle „Tyrannei der Minderheit“ aufgebrochen werden könnte. Dazu gehören so fundamentale Dinge wie die Garantie des Wahlrechts (mit u. a. einem automatischen Wähler:innenverzeichnis statt der jetzigen Registrierung, Wahlen an einem Sonntag statt einem Werktag) und die Garantie, dass der Wahlausgang auch dem Mehrheitswillen entspricht (u. a. durch die Direktwahl des Präsidenten/der Präsidentin, der Reform des Senats, der Abschaffung des Mehrheitswahlrechts zugunsten eines Verhältniswahlrechts). Letztlich müssten auch die regierenden Mehrheiten gestärkt werden, durch z. B. die Abschaffung des Filibusters im Senat, Amtszeitbegrenzungen der obersten Richter oder auch durch die Erleichterung von Verfassungsänderungen. Damit dies alles nicht nur Wunschdenken bleibt, bedarf es laut den Autoren nicht nur „einer demokratischen Agenda, sondern auch einer demokratischen Reformbewegung, die in der Lage ist in einer unermüdlichen Kampagne landesweit die unterschiedlichsten Schichten und Gruppen zu mobilisieren und so die Vorstellungskraft zu entzünden und die öffentliche Debatte neu auszurichten“ (S. 282).

Hilfreiche Kontextualisierung der US-amerikanischen Politik

Fazit: Das Buch hilft beim Verständnis von so manchen US-amerikanischen Politik-Verwerfungen, die einem ohne das nötige historische Wissen und ausreichende Kenntnis der Verfassungsrealität als kaum nachvollziehbare Einzelereignisse erscheinen. Wenn es für den amerikanischen Markt auch eine wichtige Publikation sein mag, so dürfte der potenzielle Lerneffekt für Leser:innen in Europa – mit Ausnahme für USA-Expert:innen – doch eher begrenzt sein.