Milo Rau:

Die Rückeroberung der Zukunft

Ausgabe: 2024 | 4
Die Rückeroberung der Zukunft

Milo Raus Essay stellt sich der oft kontrovers diskutierten Frage, was Kunst in einer politischen Welt leisten kann, die von Extremismus, Nationalismus und Kapitalismus geprägt ist und so marginalisierte Personen zunehmend einschränkt. Raus Essay ist kein Pamphlet, das identitätspolitisch argumentiert und dem Kanon der „Wokeness“ zustimmt. Viel eher setzt sich der Künstler mit den blinden Flecken und Widersprüchlichkeiten auseinander, denn „die Uneinigkeit der Wohlmeinenden stärkt die Herrschaft des Tatsächlichen“ (S. 32).

Der Essay ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Kapitel unternimmt Rau eine Gegenwartsanalyse, in der er die politischen Ansprüche an die Kunst kritisiert. Er verhandelt das Spannungsfeld, in dem sich Politik und Kunst gegenseitig beeinflussen. Er reflektiert: „Warum und wofür gibt es diesen anderen Raum, den Raum der Poesie, der Poetik, diese andere Gegenwärtigkeit, in der reale Erfahrung (und nicht bloß Information), in der Praxis (und nicht bloß in der Kritik), in der Solidarität (anstelle von Abgrenzung und Exklusion), Widersprüchlichkeit (anstelle von Moralismus) und Utopie (anstelle des kapitalistischen Realismus) uns befreien können aus der totalen Gegenwart? Denn um nicht weniger geht es, muss es gehen in der Kunst.“ (S. 52 f.). Raus marxistischer Kunstbegriff reagiert nicht bloß auf Politik und Geschichte, sondern schafft einen Verhandlungsraum, der Widersprüchlichkeiten, aber ebenso Möglichkeiten aufzeigt, um die Probleme und Katastrophen der Gegenwart in der Zukunft zu bewältigen.

Wie solche „Lösungen“ aussehen könnten, diskutiert Rau im zweiten und dritten Teil des Buches. Dabei steht im Mittelpunkt das Bemühen, den lähmenden Zustand der Gegenwart hinter sich zu lassen, indem vorgegebene Ordnungen und Strukturen überwunden werden. Dem Vorwurf etwa, dass Rau als Theaterintendant unterschiedlicher Institutionen (etwa der Wiener Festwochen) die Dogmen der Political Correctness (z. B. über Erfahrungen von Geflüchteten zu erzählen, die er selbst nicht gemacht hat) unreflektiert verinnerlicht habe, begegnet er, indem er „radikale Widersprüchlichkeiten“ (S. 87) dieser Argumentationslinien in seinen Inszenierungen sichtbar macht. Demnach geht es nicht darum, die Welt mithilfe von moralisch richtigem Handeln zu verbessern, sondern Skandale zu inszenieren, um auf Fehler der bestehenden Ordnung zu verweisen. Als Beispiel erwähnt der Regisseur seinen Dokumentarfilm Kongo Tribunal, in dem er den Kongo-Krieg aus der Perspektive von Opfern, Täter:innen, Zeug:innen und Analytiker:innen versammelt, um die Verbrechen des Krieges exemplarisch zu verhandeln.

Ein kluges Zusammendenken von Kunst und Politik

Dass diese künstlerischen Projekte nun tatsächlich politische Stoßkraft haben und Teil eines zivilgesellschaftlichen Aktivismus sind, bespricht Rau im dritten Kapitel, wenn er sich der Frage widmet, wie es zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Zustände kommen kann. Rau empfiehlt in Anschluss an seine Argumentation, Komplexitäten und Widersprüchlichkeiten nicht zu negieren, sondern offenzulegen und auszuhalten, während die eigene Position stets zu hinterfragen ist, um so in eine offene Zukunft der Solidarität zu blicken. „Die Rückeroberung der Zukunft“ sollte nicht nur aufgrund der aktuellen Themen der Gegenwartsbewältigung, sondern auch aufgrund des klugen Zusammendenkens von Kunst und Politik gelesen werden, das für beide Disziplinen äußerst anregend ist.