Christoph Butterwegge

Die polarisierende Pandemie

Ausgabe: 2022 | 4
Die polarisierende Pandemie

Christoph Butterwegge ist einer der renommiertesten Armutsforscher Deutschlands. In Die polarisierende Pandemie rekonstruiert Butterwegge den Verlauf von Covid-19, die politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, die Proteste dagegen sowie – naheliegend – die sozialen Auswirkungen der Pandemie und der ergriffenen Gegenmaßnahmen auf die deutsche Gesellschaft. Erhellend ist bereits das Einführungskapitel, in dem es um historische Seuchen wie die Pest, Cholera, Typhus, Pocken sowie die Spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg geht. Butterwegge zeigt darin auf, dass Seuchen mit der zunehmenden Mobilität, immer aber auch mit sozialen Verwerfungen wie Kriegen oder prekären Lebenslagen zusammenhingen. Neu ist auch nicht die Angst vor Impfungen, wiewohl diese – neben der Verbesserung der hygienischen Bedingungen – wesentlich zur Eindämmung beziehungsweise Ausrottung dieser Seuchen geführt haben. Es wäre sinnvoll, so Butterwegge, sich etwa der Ausmerzung der Pocken aufgrund von Impfplichten zu erinnern, um die aktuelle Pandemie besser einschätzen zu können.

Das deutsche Krisenmanagement

Im Folgekapitel rekonstruiert Butterwegge die deutsche Pandemiepolitik, der er durchaus Erfolge zumindest in der Anfangszeit attestiert, die er aber auch aufgrund vieler Inkonsistenzen sowie zu spätem Reagieren bei der zweiten und dritten Welle kritisiert. Auch finanzielle Geldflüsse seien alles andere als transparent erfolgt – so wurde etwa jedes neu geschaffene Intensivbett eines Krankenhauses mit 50.000 Euro belohnt, ohne auf einen Kostennachweis zu achten. Für die gemeldeten Betten habe dann aber nicht selten das Pflegepersonal gefehlt. Maßnahmen seien nicht immer nachvollziehbar

gewesen. Auch die „Rettungsmaßnahmen“ – Butterwegge setzt diese durchgehend unter Anführungszeichen – seien sehr unternehmerfreundlich ausgefallen, bis hin zu den Kurzarbeitslösungen, während vulnerable bzw. marginalisierte Gruppen häufig vernachlässigt worden seien. Anders als in Dänemark oder den Niederlanden habe die deutsche Bundesregierung [man kann ergänzen, auch die österreichische, Anm. HH] Aktiengesellschaften, die staatliche Hilfe in Anspruch nahmen, nicht untersagt, Dividenden auszuschütten. Die Großaktionäre von BMW, das Geschwisterpaar Quant, hätten im Krisenjahr 2020 allein 769 Millionen erhalten – insgesamt wurden 1,64 Milliarden Euro ausgeschüttet (S. 125).

Wie andere auch zeigt Butterwegge auf, dass die Pandemie bereits davor existierende soziale Defizite verstärkt habe. Er gesteht zu, dass der eine oder andere Missstand überwunden oder zumindest gelindert werden konnte, etwa die katastrophale Lage der Arbeitenden in den großen Fleischfabriken wie Tönnies. Doch vieles sei beim Alten geblieben – insbesondere das Auseinanderklaffen von Armut und Reichtum oder die rapide Zunahme des Immobilienvermögens bei gleichzeitiger Explosion der Mieten. Butterwegge pointiert: „Ungerecht ist nicht das Virus, sondern die Klassengesellschaft, auf deren Mitglieder es trifft.“ (S. 102)

Ausführlich beschreibt der Autor auch die kritischen Stimmen zur Pandemiebekämpfung sowie die Corona-Proteste der „Querdenken“-Bewegung, die zwar eine bunte Anhängerschaft verzeichnete, zusehends aber von Rechtsextremen besetzt worden sei. Die Ängste vor der Pandemie sowie jene vor der Impfung seien im öffentlichen und politischen Diskurs zu wenig beachtet bzw. verunglimpft worden („Pandemie der Ungeimpften“, Jens Spahn), kritisiert der Autor: „Der mediale Alarmismus und der politische Aktionismus trugen weder zu einer Befriedung des Konflikts noch zu einer Versachlichung der öffentlichen Diskussion bei.“ (S. 157) Doch emanzipatorisches Potenzial sieht Butterwegge, der selbst für das Impfen eintritt, in den Protesten nicht.

Geschlechterspezifische Auswirkungen

Ein weiteres Kapitel widmet Butterwegge den unterschiedlichen Auswirkungen der Pandemie auf die Geschlechter (Frauen und Mütter trugen die Hauptlast, wie Studien zeigen) sowie die Generationen (die Kinder und Jugendlichen würden von den Folgen von Covid-19 am längsten betroffen sein, der Autor spricht von einer „Generation Corona“, S. 191). „Covid-19 war mit Sicherheit weder die erste noch die letzte Pandemie“ (S. 208), so Butterwegge im Resümee. Deutschland sei aufgrund seiner hervorragenden Ressourcenausstattung, funktionsfähigen Behörden und föderalen Struktur gut gerüstet für weitere Krisen, ein die Ungleichheit verringernder Wohlfahrtsstaat sowie insbesondere fairere Bildungschancen für alle bei gleichzeitig stärkerer Heranziehung der Vermögenden zur Finanzierung der öffentlichen Leistungen müssten die Gesellschaft jedoch krisensicherer machen. Ein Band, der umfassend über die Folgen der Pandemie informiert und Zukunftsperspektiven für eine sozial ausgewogenere (deutsche) Gesellschaft bietet.