Andreas Reckwitz

Die Gesellschaft der Singularitäten

Ausgabe: 2019 | 2
Die Gesellschaft der Singularitäten

„Was immer mehr erwartet wird, ist nicht das Allgemeine, sondern das Besondere. Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre.“ (S. 7) Was einst vorbildliche Lebensentwürfe gewesen seien, noch bis in die 1970er-Jahre, ist heute nach Andreas Reckwitz nicht mehr erstrebenswert, „der Durchschnittsangestellte mit Durchschnittsfamilie in der Vorstadt, ist in den westlichen Gesellschaften zur konformistisch erscheinenden Negativfolie geworden, von der sich das spätmoderne Subjekt abheben will“. (S. 9) Was heute geschieht gehe über die Individualisierung hinaus, die Ulrich Beck beschrieben hat. „Singularisierung meint aber mehr als Selbständigkeit und Selbstoptimierung. Zentral ist ihr das kompliziertere Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist.“ (ebd.)

Im Modus der Singularität werde das Leben nicht einfach gelebt, sondern kuratiert. Man „performed“ sein Selbst vor den Anderen, nicht zuletzt in den sozialen Medien. Es wird um Sichtbarkeit, Attraktivität und Aufmerksamkeit gekämpft. Traditionelle Institutionen bieten hier wenige Ressourcen, um zu punkten. Partikuläre und temporäre Formen werden wichtiger, wie es Szenen, Subkulturen, Freizeit- und Konsum-Communities sein können. Diese Gruppenbildungen korrespondieren mit dem Aufstieg und der Ausdifferenzierung der Identitäts-Politiken, aber etwa auch mit der Ausdifferenzierung des religiösen Lebens.

Verschiedene Formen von Singularität

Reckwitz erinnert daran, dass genauso wie das Allgemeine, so auch das Besondere sozial konstruiert ist. Wir entscheiden, was unter einer „guten Staatsbürgerin“ zu verstehen ist, genauso wie wir entscheiden, was wir mit einem „veganen, queeren Hipster“ meinen würden.

Nicht nur Menschen versuchen singuläre Identitäten zu basteln, auch Dinge, Kollektive, Räumlichkeiten und Zeiten müssen „besonders“ und möglichst einzigartig sein. Wem es gelingt, als singulär, besonders, einzigartig wahrgenommen zu werden, hat handfeste Vorteile. Sei es durch Attraktivität im Privatleben, durch Verkaufszahlen bei Produkten, durch BesucherInnenzahlen im Café oder durch häufige Buchung des angebotenen Erlebnisurlaubs. Das bedeutet auch, dass diejenigen Vorteile haben, die in der Lage sind, Besonderes zu produzieren, und diejenigen, die entscheiden, ob dieses oder jenes besonders ist.

Singularität kennt ein Oben und Unten. In der Ökonomie spielt das Besondere eine immer wichtigere Rolle, geringe Auflagen von Turnschuhen, Personalisierung von Automobilen, Personalrekrutierung „besonderer Mitarbeiter, die anders denken“, Technologien wie 3D-Drucker, die individuelle Pläne umsetzen, sind dafür Beispiele.

Wenn die Konstruktion des möglicherweise Besonderen und die noch nötige Anerkennung als Besonderes in den Mittelpunkt rücken, verlagern sich viele ökonomische Kämpfe in die kulturelle Sphäre. Schon jetzt spielt in etlichen Branchen das Design und noch mehr die lebensweltliche Aufladung von Marken eine wichtigere Rolle als die Technologie. Logisch auch, dass wir persönliche Daten von Personen benötigen, um ihnen individuelle, singuläre Angebote machen zu können. Produkte müssen nicht mehr zu einer Kultur oder einer sozialen Situation passen, sie werden auf das Individuum zugeschnitten, auch: „because we can“. Wir haben ja die Daten.

Reckwitz über die positiven Seiten aktueller Entwicklungen

Reckwitz hat offene Augen auch für die positiven Seiten der Entwicklung. „Zweifellos: Die Gesellschaft der Singularitäten hat in bestimmten Milieus – insbesondere in der neuen, gut qualifizierten und mobilen Mittelklasse – zu beträchtlichen Autonomie- und Befriedigungsgewinnen geführt. Sie hat einen grundsätzlich libertären Zug, der soziale Begrenzungen des Möglichen niederreißt, und sie ermöglicht die Selbstentfaltung der Individuen in einer Breite und Intensität, wie sie die klassische Moderne nicht kannte.“ (S. 22)

Die problematischen Effekte sind aber augenfällig: Wenn wir stets anstreben müssen, besonders zu sein, sind wir auf der Reise in die psychische Überforderung. Wenn wir immer komplexere Einzelprodukte erstellen müssen, werde die Arbeitswelt eine Spreizung zwischen immer qualifizierteren Gruppen in der Kultur- und Wissensökonomie und den Abgehängten in den Dienstleistungsbranchen abseits der Industrie hervorbringen. Schließlich biete die Singularität einen guten Boden für das Aufleben von Nationalismen mit den ihnen inhärenten Bewertungen von Gruppen.

Reckwitz sieht uns auf drei Krisen zusteuern. Mit der Krise des Politischen meint er, dass wir vor der Frage stehen, wie wir eine zumindest provisorische „Rekonstruktion des Allgemeinen“ innerhalb einer Gesellschaft der Singularitäten zustande bringen. Weiters sieht er eine Krise der Selbstverwirklichung. Gerade in den Mittelschichten hängt die erfolgreiche Selbstverwirklichung und das damit verbundene persönliche Glück von der Volatilität der kulturellen Märkte, der Beurteilung durch Andere ab. Die Notwendigkeit, sich selbst immer wieder neu zu erfinden, um beispielsweise auf fallende Bewertung zu reagieren oder um zusätzliche zu generieren, könne leicht in die Depression führen. Die Krise der Anerkennung führt dazu, dass die soziale Schere in der Gesellschaft immer weiter aufgeht. Denn die Fähigkeit, mit den kulturellen Symbolen umzugehen, ist ungleich verteilt. Und auch der Zugang zu den Bewertungsmaschinen ist natürlich weiterhin nicht für alle gleich. Sei es zwischen arm und reich, zwischen Zentrum und Peripherie: die Singularität trägt dazu bei, die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft zu forcieren.