Ulrike Guérot

Der neue Bürgerkrieg

Ausgabe: 2019 | 2
Der neue Bürgerkrieg

Kurz nach ihrer umfassenden Utopie einer europäischen Republik legt Ulrike Guérot eine kleine Streitschrift nach, in der sie ihre große Sorge über die Zerstörung des europäischen gesellschaftlichen Zusammenhalts durch nationalistische, populistische Bewegungen äußert. Laut Guérot findet in Europa ein Bürgerkrieg statt – und zwar nicht in Form bewaffneter Auseinandersetzungen und auch nicht innerhalb oder zwischen Nationen, sondern über Grenzen hinweg, mittels verbaler Aufrüstung, die vor allem RechtspopulistInnen gezielt einsetzen: „Im europäischen Bürgerkrieg gegenüber stehen sich Globalisierungsverlierer und Globalisierungsgewinner, urbane Zentren und ländliche Regionen, Jung und Alt, Arm und Reich, Identitäre und Kosmopoliten. Es herrscht eine fast prärevolutionäre Situation, die mit dem klassischen politischen Schema von rechts und links nichts mehr zu tun hat; wohl aber mit dem Paradigma des Bürgerkriegs, nämlich Beherrschte gegen Herrschende oder eben ‚Volk‘ gegen ‚Elite‘“ (S. 10).

Obwohl diese Situation für die Demokratie sehr gefährlich ist, bietet sie laut Guérot auch eine Chance: Die „Zerschlagung der Nationen“, wie Populisten sie im Grunde betreiben, könnte als eine Art „europäischer Vormärz“ gedeutet werden und in jene europäische Republik münden, welche die Autorin in ihrer politischen Utopie beschreibt. Wieder stellt Guérot eine Reihe von vernichtenden Diagnosen, was Europas derzeitigen Zustand anbelangt. Kritik wird am „kolossalen Missmanagement“ (S. 13) diverser Krisen geübt; vom Euro über die Flüchtlinge zur Spaltung zwischen Nord und Süd sowie Ost und West. Der daraus resultierende neue Bürgerkrieg besteht aus zwei Facetten: einem transnationalen Verteilungskampf und einem Kulturkampf, wo es vor allem um Deutungshoheiten geht: Nationalismus vs. Kosmopolitismus; Identität vs. Migration, Gender, Homosexualität. (vgl. S. 21)

Als Nährboden für diesen Bürgerkrieg dienen die vom Neoliberalismus zerstörten alten Industrie-regionen und Peripherien, die besonders viele AnhängerInnen rechtspopulistischer Parteien hervorbringen. Die Autorin konstatiert ein „Aufbegehren von unten“ (vgl. S. 23), von all jenen, welche von einer wirtschaftsliberalen EU ohne soziale Dimension vergessen wurden – wobei dies freilich zuallererst an den Nationalstaaten liegt, welche der EU dieses soziale Antlitz verwehren. Guérot nimmt hier vor allem Deutschland in die Pflicht, welches von der aktuellen Verfasstheit Europas als Exportnation stark profitiert, sich aber sozialen Verpflichtungen wie etwa der Einführung von Eurobonds verweigert. Vor allem die südlichen Regionen Europas leiden unter diesen Strukturen, mit Raten von Jugendarbeitslosigkeit um die 50 Prozent.

Eine europäische Republik mit starkem Parlament und Wahlrechtsgleichheit

Wie in ihrer Utopie schon ausgeführt, wünscht sich Guérot eine europäische Republik mit starkem Parlament und vor allem Wahlrechtsgleichheit. Formen der direkten Demokratie, die vor allem Plebiszite beinhalten, steht sie kritisch gegenüber: Der Brexit zeige, dass eine emotionale Ja/Nein-Debatte kaum politischen Mehrwert hat bzw. gar in die Katastrophe führen kann, denn: „Allgemein gilt, dass Partizipation nicht mit Plebiszit zu verwechseln ist. Bürgernahe partizipative Prozesse auf lokaler oder regionaler Ebene werden gut angenommen und verlaufen zufriedenstellend (…). Hingegen ist das Plebiszit gleichsam die hässliche Schwester von Wahlen: Man kann, blickgeschützt in der Wahlkabine, einfach mal gegen das Gemeinwohl stimmen, solange man selber glaubt, dass man etwas davon hat“ (S. 56).

Stattdessen soll Macht dezentral in Regionen und horizontal zwischen den europäischen BürgerInnen verteilt werden – Föderation, Subsidiarität, checks and balances – dieses sind die zentralen Begriffe, um die sich die Diskussion um eine europäische Republik entwickeln soll. Es braucht dazu eine aktive Zivilgesellschaft und europäische Medien, die europäische Themen aufnehmen – Politik soll somit wichtiger als die Nation werden. Wahlrechtsgleichheit, Steuergleichheit, gleiche soziale Rechte sollen helfen, ein europäisches Konzept von Staatsbürgerschaft zu entwickeln und das „Eliteprojekt Europa“ (vgl. S. 83) durch eine wahrhaft demokratische Republik abzulösen. Nur so kann der neue Bürgerkrieg beendet werden.

Guérot betont in ihrem schmalen Band, dass es sich um eine „Streitschrift“ handle – und ganz sicher ist ihr Beitrag ein Stimulus für die Debatten zur Zukunft Europas. Trotz der offenen Positionierung als Debattenbeitrag sei der Begriff des „Bürgerkriegs“ hier kritisiert, auch wenn die Autorin darauf verweist, dass es sich hier freilich nur um einen verbalen, kulturellen Krieg handelt, der nichts mit einer bewaffneten Auseinandersetzung gemein hat.