Die gefühlte Ungerechtigkeit

Ausgabe: 2010 | 1

Die Finanzkrise hat den Staat als Retter in der Not wieder entdeckt. Doch es mehren sich die Stimmen jener, die vor der Überforderung des Staates sowie der Überschuldung der öffentlichen Haushalte warnen. Eine Neubestimmung des Verhältnisses von Politik, Wirtschaft und BürgerInnen auf der Basis eines erneuerten freien Marktes und Wettbewerbs wird gefordert. Die Autoren der folgenden beiden Bände zählen zu diesen warnenden Stimmen.

 

Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, und Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts, plädieren in „Die gefühlte Ungerechtigkeit“ für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Effektive Wettbewerbspolitik, eine berechenbare Wirtschaftspolitik, Partizipationschancen für alle und langfristige Stabilität mit Blick auf Bevölkerung und natürliche Ressourcen sind dessen Kernpunkte. Das Leben in der globalisierten Welt beschleunige sich, der Kompetenzvorteil des Staates und der Politik liege dagegen gerade in der Entschleunigung. Die verlangsamten Strukturen des Staates seien von Vorteil - sie setzen Rahmenbedingungen, die nicht bei jedem heftigeren Windstoß des globalen Wettbewerbs in sich zusammenfallen. Ein Plädoyer für die Aufwertung des Staates bei gleichzeitigem Plädoyer für freie Marktwirtschaft und einem offenen Wettbewerb. Aufgabe des Staates sei es demnach, gleiche Partizipationschancen zu schaffen, ergreifen müssten diese die BürgerInnen dann selbst. Was im Grunde richtig ist, kommt in der hier vorgetragenen Weise wohl aber nur bedingt an. So ist die Aufforderung in Anlehnung an Hannah Arendt, uns unserer Aufgabe als BürgerInnen zu besinnen und sich in den politischen Diskurs zu begeben, prinzipiell zu begrüßen, doch setzt dies voraus, dass alle die Möglichkeiten und Fähigkeiten dazu haben. Neben materiellen Voraussetzungen bräuchte es hierfür wohl auch eine ganz andere Medien- und Bildungsöffentlichkeit.

 

Auch Utz Claasen, der zehn Jahre lang als Konzernchef verschiedener Unternehmen tätig war und nun als Unternehmensberater, Publizist sowie Universitätslehrer arbeitet, setzt zur Ehrenrettung der freien Marktwirtschaft an. Der Tenor seines Buches „Wir Geisterfahrer“ lautet: Nicht das System an sich ist falsch, sondern problematisch sind seine Auswüchse, die Verfehlungen. Der Autor sieht diese weniger in Defiziten des Marktsystems denn im intellektuellen und moralischen Versagen der Wirtschaftsakteure begründet. Demnach appelliert er an die Intelligenz und Redlichkeit seiner „KollegInnen“ und fordert die Rückkehr zu einer wirklich freien Marktwirtschaft. Claasen spricht zwar von Regulierungsversagen, warnt aber vor der „naiven Hoffnung, der Staat werde es künftig schon richten“ (S. 134). Die Politik habe angesichts der Finanzkrise zwar „Großes“ geleistet, weil sie zur Besonnenheit aufgerufen und Vertrauen geschaffen habe. Äußerst problematisch sei jedoch die eingeschlagene Strategie, „Schulden mit Schulden zu bekämpfen“ (S. 145) Zukunftsinvestitionen in Schulen und Universitäten, in Bildung und Ausbildung, in Forschung und Entwicklung seien „wesentlich wichtiger, wesentlich nachhaltiger und letztlich auch wesentlich ertragreicher“ als das „Aufkaufen fauler Papiere Not leidender Banken oder auch als verpuffende Konjunkturbelebungsmaßnahmen mit einer Halbwertszeit, die gerade noch über die nächste Wahl hinausreicht“ (S. 146).

 

Claasen spricht von einer dreifachen Krise: der Finanzkrise, der Restrukturierungskrise sowie der Verschuldungskrise. Letztere werde uns seiner Meinung nach am längsten beschäftigen. Krisenzuspitzungen wie die Zahlungsunfähigkeit von (EU)-Staaten, der Zerfall der Euro-Zone oder ein starker De-Globalisierungsschub seien möglich. Überschuldung sei in der Geschichte immer entweder durch Krieg oder durch massive Geldentwertung „gelöst“ worden. Beides sei problematisch. Die Rückkehr zu einer Politik des Sparens und Investierens in neue Strukturen ist für den Autor daher ein Gebot der Stunde. H. H.

 

Hüther, Michael; Straubhaar, Thomas: Die gefühlte Ungerechtigkeit. Berlin: Econ, 2009. 334 S., € 19,90 [D], 20,40 [A], sFr 34,-

 

ISBN 978-3-430-30036-0

 

Claassen, Utz: Wir Geisterfahrer. Wir denken falsch. Wir lenken falsch. Wir riskieren die Zukunft unserer Kinder. Hamburg: Murmann, 2009. 376 S., € 19,90 [D], 20,50 [A], sFr 31,50; ISBN 978-3-86774-066-1