Elke Seefried

Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert

Ausgabe: 2022 | 3
Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert

Elke Seefried ist stellvertretende Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), Historikerin und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Zukunft, genauer gesagt, mit der Geschichte der Zukunft. Dieser Band stellt Zukunftsentwürfe politischer Parteien und Bewegungen im 20. Jahrhundert vor. Die Texte diverser Autor:innen basieren auf Vorträgen, die bei einer Tagung des IfZ im Jahr 2017 gehalten wurden. Es geht um die Zukunftsbilder des gesamten politischen Spektrums, von der kommunistischen Bewegung bis hin zu nationalsozialistischen Konzeptionen.

In der Zusammensicht der Bilder erkennt Seefried in der Einleitung, dass der Entwurf und die Kommunikation politscher Zukunft im 20. Jahrhundert nicht nur von den Deutungs- und Ordnungsmustern der jeweiligen politischen Partei bzw. Bewegung abhingen, sondern auch von den Interaktionen und dem Kontext des jeweiligen politischen Systems. Das erklärt auch, warum die Zukunftsbilder derselben Parteien oder Bewegungen sich im Laufe der Zeit stark veränderten.

Zukunftsbilder im Wandel der Zeit

Man kann dies anhand von vielen Beispielen des Buches erläutern. Da wäre etwa der politische Liberalismus. Im 19. Jahrhundert stand das Vertrauen in Wissenschaft, Vernunft und Fortschritt im Mittelpunkt des Denkens der Liberalen. Weltkrieg und Revolution einerseits und die Konkurrenz mit sozialistischen Bewegungen andererseits führten zu einem abrupten Wandel. Nun stand die Suche nach Ordnung und Stabilität für die meisten Liberalen im Mittelpunkt.

Auch bei den Sozialdemokrat:innen kann man die Verschiebung der eigenen Zukunftsvorstellungen im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Veränderungen klar nachvollziehen. Traditionell dominierte ein Oszillieren zwischen dem Bekenntnis zur schrittweisen Reform zu einer konkret, sofort besseren Zukunft und dem Fernziel eines Sozialismus. Getragen war dies lange Zeit von einem starken Optimismus. In den 1960er Jahren war die Sozialdemokratie in einer Zeit des starken Fokussierens auf technologische Möglichkeiten (Sputnik etc.) ein natürlicher Trägerin der Idee der schrittweisen, pragmatischen Verbesserung der Welt durch technologische Verbesserungen. Das schlug spätestens in den 1980er-Jahren um. Das Ende der hohen Raten des Wirtschaftswachstums und die beginnende Diskussion der ökologischen Krise änderten die Zukunftsdiskussion der SPD deutlich hin zu pessimistischeren, zumindest zögerlicheren Fortschrittsversprechen. Die Christdemokrat:innen etablierten gleichzeitig die Erzählung, dass nun sie die Träger:innen der optimistischen Gestaltung der Zukunft wären, die Besitzstandwahrer:innen entgegentreten. Und Ende der 1990er-Jahre wendete sich das Blatt wieder, als unter dem Eindruck von Tony Blairs New Labour die Kombination von Modernisierungserzählungen, Marktakzeptanz und positiven technologischen Erwartungen die Führerschaft beim Begriff Zukunft (vorübergehend) an die Sozialdemokrat:innen zurückging.

Wichtig freilich ist auch die Umweltbewegung. Ihre Beiträge zur Zukunftsdebatte haben entscheidenden Einfluss auf der Bühne der Diskussionen. Auch Robert Jungks Buch Der Atomstaat bestimmte hier einen der Stränge der Diskussion (S. 330f.). Die Umweltbewegung, die Grünen, sowie Anti-AKW-Aktivist:innen als Apokalyptiker:innen zu beschreiben, wird der Bewegung nicht gerecht, zeigt Seefried. Klar: Die Warnungen vor ökologischen Katastrophen waren zentral. Aber: „Andererseits jedoch antizipierten sie in kreativer Weise neue Möglichkeiten positiver Wege in die Zukunft. Ihr Zukunftsdenken blieb somit vielschichtig und schloss nicht nur zivilisationskritische Züge, sondern auch Zukunftsoptimismus mit ein.“ (S. 340)

Eine regelrechte Wissensfundgrube

Dies sind nur einige Beispiele aus dem Buch, die das Zusammenspiel von gesellschaftlichen Debatten und der Formulierung von Zukunftsbildern in Parteien und Bewegungen darstellen. Das Buch ist darüber hinaus eine Fundgrube für das bessere Verständnis der politischen Programmatik. Wir erfahren, wie Konservative nach vorne zu schauen lernten, als sie weder die Weimarer Republik akzeptieren wollten, noch die Rückkehr zum Kaiserreich mehr für wünschenswert hielten. Es war die Geburtsstunde der Denkweise der „Konservativen Revolution“. Wir sehen, wie im politischen Katholizismus die religiöse Erwartung einer letzten Vollendung im Jenseits große Zielvorstellungen für das Diesseits nicht notwendig erscheinen ließ. Das hatte ein großes, konkretes, alltägliches Engagement im Hier und Jetzt zur Folge, was ein Geheimnis der Stärke der katholischen Zentrumspartei war.

Die Demokratie liefert eine ganze Palette an Zukunftsbildern für die Bürger:innen. Die Bilder zeigen dabei nicht nur Visionen einer besseren Welt, sie illustrieren immer, wie die jeweiligen politischen Vorstellungen in der Lage sind, auf die aktuellen Umstände und Debatten zu reagieren.