Demokratische Gerechtigkeit

Ausgabe: 1996 | 2

Angesichts der Hinterfragung, in postmoderner Begrifflichkeit der" Dekonstruktion" aller "großen Entwürfe" wird auch "großen" Begriffen wie jenem der Gerechtigkeit, der vor allem als "soziale Gerechtigkeit' viele Parteiprogramme ziert, auf den Leib gerückt. Ausgehend von Luhmanns Kritik der Werte als problematischem "Reflexionsstop" unternimmt Alfred J. Noll den Versuch, Gerechtigkeit und mit ihr den Anspruch auf universale Werte generell neu zu justieren. Dem aus den USA kommenden Kommunitarismus entnimmt er die Forderung, das Konzept der Gerechtigkeit "als Gleichheit unter Rücksichtnahme auf kulturelle und soziale Verschiedenheit zu pluralisieren '', der feministischen Theorie der Bedürfnisse den Hinweis, daß wirtschaftliche Gleichheit als gleichmäßige Verteilung ökonomischer Ressourcen nach Rawls Gerechtigkeitstheorie nicht ausreiche, sondern daß vielmehr nach den Handlungsfähigkeiten der Menschen zu fragen wäre, "die - weil sie die Freiheit einer Person wiederspiegeln, zwischen verschiedenen Lebensweisen zu wählen - unser Wohlergehen bestimmen". Mit anderen Worten: Wenn die kompensatorischen Zuwendungen der distributiven Gerechtigkeit lediglich bekräftigten, "daß die Individuen von der Selbstproduktion ihres gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs ausgeschlossen sind", so ginge es darum, Gerechtigkeit als Chancengleichheit zu sehen, selbstgewählte Lebensentwürfe zu realisieren, was in einer" kommerzialisierten und bürokratisierten Welt" freilich schwerfalle. Noll möchte Universalismus und Verschiedenheit in diesem Sinne als dialektische Ergänzung verstanden wissen und kommt letztlich - wie freilich andere auch - zum Schluß, daß Gerechtigkeit nur diskursiv hergestellt werden könne. Es sei somit" nicht so sehr der Konsens über ,Gerechtigkeit' als vielmehr die Bildung des Urteils durch ,faire' und ,vernünftige' Argumentationsverfahren von Bedeutung". Demokratische Gerechtigkeit muß in diesem Sinne - so die Quintessenz der Abhandlung - zweierlei sein: das Recht auf Differenz sowie die öffentliche, argumentative Herstellung von Gerechtigkeit. H. H.

 Noll, Alfred J.: Demokratische Gerechtigkeit. Ein Bericht. Wien: Verl. f. Gesellschaftskritik, 1995. 111 S.