Patrizia Nanz ist Expertin für Demokratie, Transformative Wissenschaft und nachhaltige Entwicklung. Gemeinsam mit Claus Leggewie hat sie das Konzept der „Konsultative“ als „vierte Macht“ des Staates entworfen. Demokratisch und repräsentativ zusammengesetzte Zukunftsräte sollten die Politik in großen Fragen wie dem Klimawandel oder dem Umgang mit Migration beraten. Nun skizziert sie gemeinsam mit dem Sozialphilosophen Charles Taylor, und Madeleine Beaubien-Taylor, Geschäftsführerin von Network Impact, Ansätze, um dem Vertrauensverlust gegenüber der Politik und der zunehmenden Spaltung unserer Gesellschaften entgegenzuwirken. Vor zwei großen, miteinander verflochtenen Herausforderungen stehen laut Autor:innen die liberalen Demokratien: „Einem zunehmenden Verlust ihrer Fähigkeit, Probleme zu lösen, und einer wachsenden Kluft zwischen den politischen Eliten und der Bevölkerung.“ (S. 9) Letztere spiele insbesondere in benachteiligten, deindustrialisierten Regionen eine wichtige Rolle und bringe demagogischen politischen Bewegungen breiten Zulauf. Soziale Medien sowie der Medienkonsum generell vergrößere die Distanz zwischen Bürger:innen und der politischen Sphäre weiter.
Neue Formen der Beteiligung
Den Ausweg sehen Nanz und die Mitautor:innen nicht nur in der Reform der Parteien und Öffentlichkeit sowie in der Beschränkung der Macht des Geldes, sondern insbesondere in neuen Formen der Beteiligung, die auch von aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen Benachteiligte einbinden: „Um verantwortungsvolles Regierungshandeln wiederherzustellen, müssen wir unserer Ansicht nach die Demokratie von unten her neu aufbauen. Nur wenn wir die Demokratie an der Basis stärken und neu beleben, gewinnen die Bürger:innen Klarheit darüber, welche Forderungen sie erheben wollen und welche Zukunft sie sich für ihre Kommune oder Region vorstellen.“ (S. 11) Es gehe darum, lokale Gemeinschaften aufzubauen, die neue solidarische Bindungen erschaffen und die Interessen und Ziele von Angehörigen der Gemeinschaft miteinander in Einklang bringen. Kreative Kräfte sollen freigesetzt und die Selbstorganisationspotenziale auf kommunaler und Stadtteilebene gestärkt werden.
Im Mittelteil des Buches werden Beispiele solcher erfolgreicher Beteiligungs- und Ermächtigungsprojekte geschildert. In ehemaligen Industrieregionen in Wisconsin sowie Massachusetts gelang es, gemeinsam mit Bürger:innen, Arbeitsmarktstellen sowie lokalen Behörden neue wirtschaftliche Potenziale zu erschließen. Aus einem benachteiligten Stadtviertel in San Diego wird von einem partizipativ entwickelten Kultur- und Einkaufszentrum berichtet, in dem lokale Geschäfte ebenso wie kulturelle Angebote gemeinsam geschaffen wurden. Eher bekannt sind Konsultationsverfahren durch Bürger:innenräte – geschildert werden Beispiele aus Irland sowie dem österreichischen Bundesland Vorarlberg. Wie die Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträger:innen gelingen kann, wird am irischen Verfassungskonvent geschildert (S. 73).
Vier Bausteine des Wandels benennen die Autor:innen: Abkehr von der Opferrolle und Entwicklung eines „emanzipatorischen Bewusstseins der kollektiven Handlungsfähigkeit“; Aufbau neuer „inklusiver Solidaritätsbeziehungen und Vertrauen“; Öffnung neuer Wege der Kreativität; Befähigung zur politischen Mobilisierung (S. 29ff.). Wichtig für den Erfolg von Transformationsprozessen seien eine professionelle Begleitung, die Beteiligung aller Betroffenengruppen sowie von ausgewogenen Expert:innen-Inputs ohne Bevormundung. Ressourcen der öffentlichen Hand oder von Stiftungen seien wichtig, Geld allein aber nicht genug. Dass Reformprojekte ohne Einbeziehung der Betroffenen schwer gelingen, wird am Beispiel des Lausitzer Kohlereviers kritisiert, in das der deutsche Staat Milliarden an Euro an Infrastrukturmaßnahmen pumpt, aber laut Autor:innen ohne wirksame Beteiligungsverfahren. Hingewiesen wird auf die Internetseite participedia.net, die verschiedene dialogbasierte Verfahren beschreibt. Betont wird dabei die Auswahl der Beteiligten nach dem Zufallsprinzip, um Repräsentativität zu gewährleiten. Dass an Zukunftswerkstätten die grundsätzliche Offenheit für alle bemängelt wird (S. 64), kann der Rezensent aber so nicht stehen lassen. Die Robert-Jungk-Bibliothek arbeitet seit 30 Jahren mit der von Robert Jungk entwickelten Methode und achtet in der Vorbereitung immer darauf, alle „Teile des Systems“ ins Boot zu holen.
Ein inspirierender Band
In Summe ein inspirierender Band, der auf die Stärkung lokaler Gemeinschaften und die Selbstorganisation von Bürger:innen sowie neuer Dialogforen setzt. Bürgerbeteiligungsprozesse beleben zweifellos die Demokratie. Sie sind kein Ersatz für die parlamentarische Arbeit und auch nicht für das zivilgesellschaftliche Engagement von Nichtregierungsorganisationen, die sich anwaltschaftlich für soziale, menschen- oder tierrechtliche und ökologische Anliegen einsetzen. In diesem Sinne könnte auch der Ausbau direktdemokratischer Elemente zur Belebung des Politischen beitragen.