Armin Nassehi

Das große Nein

Ausgabe: 2021 | 1
Das große Nein

Armin Nassehi schreibt über  Protest aus soziologischer Sicht: dessen strukturellen Voraussetzungen, seinen verschiedenen Formen und seiner Funktion für eine demokratische Gesellschaft. Protest sei eine „Nein-Stellungnahme“, und damit zuallererst eine bestimmte Form der Kommunikation; er passiert, wenn bestimmte Ansichten nicht mehr ausreichend repräsentiert sind: „Es geht nicht nur um die Adressierung eines Gegners oder um die Bearbeitung eines empfundenen Missstands, sondern auch darum, eine Form der Sichtbarkeit herzustellen, die vor allem politische Öffentlichkeiten adressiert.“ (S. 11) Gerne verweist man darauf, nicht dem „System“ anzugehören – Elitenkritik ist daher ein zentraler Bestandteil vieler Proteste.

Grundsätzlich sind moderne Gesellschaften daran interessiert, Nein-Stellungnahmen zu inkludieren. Ein Beispiel dafür wäre die Aufnahme der Anliegen von Arbeiter-, Frauen- und Umweltbewegungen in früheren Jahrzehnten. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft bringt jedoch eine Pluralisierung von Nein-Stellungnahmen mit sich, die nicht mehr alle berücksichtigt werden können, und damit ein subjektiv empfundenes „ethisches Recht auf Gehör“. Zum Protest ist es dann nur mehr ein kleiner Schritt, vor allem, weil die Bereitschaft zur Selbstbeschränkung abnimmt. Dies zeigt sich vor allem bei Protest im Netz: „Die extreme Niedrigschwelligkeit dieser Art von Kommunikation, kombiniert mit der nachgerade kostenlosen Möglichkeit der großen Nein-Geste, der Schmähkritik, der Hasskommunikation macht die besondere Bedeutung des Netzes für Protestdynamiken aus.“ (S. 127) Dem Protest ist auch eine gewisse Tragik inhärent, da er immer von Maximalforderungen ausgeht, die in einer ausdifferenzierten Gesellschaft kaum umgesetzt werden können.

Proteste unterliegen folglich einer notwendigen Steigerungslogik, die es braucht, um sie am Leben zu halten bzw. ihre Legitimation aufrecht zu erhalten. Damit kann es auch zu Gewalt kommen, auch wenn die meisten Proteste gewaltfrei bleiben. Nichtsdestotrotz bleibt Protest ein „Demokratiegenerator“, indem er Themen aufgreift, die von der etablierten Politik übersehen werden. Zur Gefahr für die Demokratie wird Protest allerdings dann, wenn demokratische Verfahren systematisch delegitimiert werden. Protest darf den politischen Prozess daher nie ersetzen – ihn aber irritieren.