Ashoka Mody

Das gespaltene Indien

Ausgabe: 2025 | 2
Das gespaltene Indien

Was im seit kurzem bevölkerungsreichsten Land der Welt passiert – 2024 hat Indien mit gut 1,4 Mrd. Bewohner:innen China überholt – kann uns nicht kaltlassen. Da macht es durchaus Sinn, sich eingehender mit der neueren Geschichte Indiens zu beschäftigen, um aktuelle Entwicklungen (besser) zu verstehen. Einen Beitrag dazu will der Indien-stämmige Ökonom Ashoka Mody mit seinem Buch leisten. Mody, der viele Jahre bei der Weltbank und dem Internationalem Währungsfonds in leitenden Funktionen tätig war, forscht und lehrt derzeit an der renommierten Princeton University in den USA.

Die Diagnose, die der Autor abliefert, steckt schon im Titel des Buches, wobei der englische Originaltitel „India Broken“, eigentlich mit „Das kaputte Indien“ richtiger, weil zum ganzen Buch wesentlich besser passend, übersetzt worden wäre.

Das Buch nimmt uns mit auf eine Reise durch 75 Jahre indischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte, beginnend mit der Unabhängigkeit Indiens von der früheren Kolonialmacht Großbritannien im Jahr 1947 bis zu der Zeit nach der Corona-Pandemie. Dabei legt der Autor neben der Bildung sein Hauptaugenmerk auf die größte Herausforderung, der „Aufgabe, Arbeitsplätze für Millionen Menschen zu schaffen“ (S. 8). Zur Größenordnung: Anfang der 2010er Jahre heißt es, dass „jedes Jahr zwischen 7 und 9 Millionen zusätzliche Menschen auf den Arbeitsmarkt“ (S. 358) drängten.

Die Basis für die heutigen Zustände wurden schon in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit gelegt. In dieser Zeit (1947 – 1964) wurde von Staatsgründer Nehru die strategische Weichenstellung pro Schwerindustrie und gegen ein Primat der Bildung breitester Schichten vorgenommen, obwohl letztere vom bengalischen Philosophen Rabindranath Tagore schon 1941 als „Schlüssel zu jeglichem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt bezeichnet worden war (S. 90). Diese Periode eines „unechten Sozialismus“, so der Titel dieses Buchteils, bleibt für den Autor doppelt unbefriedigend: „Nehrus fehlgeleitete Industrialisierungsstrategie hemmte die wirtschaftliche Entwicklung Indiens, aber langfristig wirkte sich vor allem die Vernachlässigung der Bildung verheerend aus“ (S. 110). Das Ergebnis: „Millionen potenzieller indischer Genies blieben unentdeckt“ (S. 65).

Den 20 Jahren von 1964 bis 1984 gibt der Autor die Überschrift „Gewalt“. Während dieser Zeit verschlimmern sich im Gefolge der Grünen Revolution die gesellschaftlichen Konflikte, es folgt staatliche Repression und „Indien wird zum Polizeistaat“ (S.145).  In dieser Periode hatte Indien „zwei anscheinend unlösbare Probleme, die einander gegenseitig verstärkten: den chronischen Mangel an Arbeit und die Korruption in allen Lebensbereichen“ (S. 181). Gegen Ende dieses Zeitraums ist Indien zwar in der Lage, eine Atombombe zu bauen, obwohl andererseits nur „erbärmliche 36 Prozent der erwachsenen Inder lesen und schreiben“ können, wie der spätere Nobelpreisträger Amartya Sen schon 1982 festhielt.

Die Periode von 1985 bis 2004 wollte das „Versprechen“ wirtschaftlicher Entwicklung durch Liberalisierungsschritte der Wirtschaft (v. a. Steuersenkungen und großzügige Förderungen für Unternehmen) einlösen. Als die zwei Jahrzehnte zu Ende gingen, hatte sich „an der Vernachlässigung von Bildung, Gesundheitswesen, städtischen Infrastrukturen und Umweltschutz […] nichts geändert“ (S. 309).    

Die letzten 20 Jahre seit 2005 sieht der Autor als eine Periode der „Selbstüberschätzung“ an. Durch das Fortwähren der zwei dringlichsten Probleme („Die Bildung ist minderwertig und es entstehen zu wenig Arbeitsplätze“, S. 312) driftete Indien immer mehr auseinander, in eine große in Armut oder an der Armutsgrenze lebende Mehrheit, und eine kleine in immer reicheren Verhältnissen lebenden Minderheit. Durch Corona wurde die Situation weiter verschärft. Angesichts von „rund 450 Millionen Einwohner im erwerbsfähigen Alter, die weder arbeiten noch auf Arbeitssuche sind“ und weiteren 280 Millionen Menschen in einer prekären „Landwirtschaft, die unter schwindenden Grundwasserreserven und der Klimakrise“ leidet (S. 410), braucht Indien laut dem Autor dringend einen „Übergang von einer ‚Ich-Ich-Ich-Gesellschaft‘ in eine ‚Wir-Wir-Wir-Gesellschaft‘“ (S. 417), andernfalls „droht der soziale und politische Zusammenbruch, ein Ergebnis, das nicht nur Indien, sondern der gesamten Menschheit Angst machen muss“ (S. 419)

Das Buch ist eine spannende, sehr detailreiche und mit vielen Grafiken aufgelockerte Lektüre, die selbst für Indien-Spezialist:innen sicher noch viele interessante Fakten bereithält. Auch für Leser:innen, die an Entwicklungsfragen generell interessiert sind, hat das Buch mit den zahlreichen Vergleichen der Entwicklung Indiens mit der Chinas, Südkoreas und anderen ostasiatischen Staaten im Zeitraum seit dem Zweiten Weltkrieg einiges zu bieten.