Mark Gevisser ist Journalist, Sach- und Drehbuchautor, regelmäßig schreibt er für internationale Zeitungen und Zeitschriften wie The Guardian oder The New York Times. Hier lesen wir von Erfahrungen, die Gevisser bei Reisen rund um die Welt gesammelt hat. Er erzählt etwa von einer verfolgten Transfrau aus Malawi, einem lesbischen Paar aus Russland und ihrem Sohn, von jungen Frauen in Indien, die nicht in traditionelle Rollenmuster passen. Er beschreibt auf dieser Grundlage eine „pinke Linie“.
„Ich wurde Zeuge einer besorgniserregenden neuen globalen Parallelentwicklung: Während gleichgeschlechtliche Ehen und Geschlechtsangleichungen in einigen Teilen der Welt als Zeichen der fortschreitenden Menschlichkeit gefeiert wurden, verschärfte man in anderen Teilen der Welt die Gesetze, um solche Handlungen zu kriminalisieren.“ (S. 26) Und obwohl Transmenschen 2018 in vielen Ländern, von Argentinien bis Pakistan, gesetzlich anerkannt wurden und nicht länger als ‚krank‘ gelten, wurden sie in mindestens 57 Ländern immer noch kriminalisiert und verfolgt. (S. 506) So sei eine pinke Linie gezogen worden, zwischen den Ländern, die queere Menschen zunehmend als gleichberechtigte Bürger:innen in ihre Gesellschaft integrierten, und denen, die neue Wege fanden, um sie auszuschließen, nun da sie sichtbar geworden waren.
Ein komplexer Menschenrechtsdiskurs
Die „pinke Linie“ ist der Name eines Gebietes. Es handelt sich um einen Grenzbereich des Menschenrechtsdiskurses. Die Linie verläuft nicht nur zwischen Staaten, sie verläuft auch innerhalb von Staaten. „In den Vereinigten Staaten verlief diese Linie durch Schultoiletten, als Behörden und Eltern vor Gericht zogen, um Transmädchen und -jungen daran zu hindern, die Toiletten zu benutzen, die ihrer Geschlechts-identität entsprachen.“ (S. 28) Die pinke Linie verlaufe durch Fernsehstudios und Parlamente, durch Nachrichtenredaktionen und Gerichtssäle, durch Schlaf- und Badezimmer und sogar durch manche Körper. (S. 31) In Städten wie Dakar und Lagos, Kairo oder Kabul kann man, wenn man Satellitenfernsehen hat, auf dem einen Kanal US-amerikanische LGBTQIA*-Kultserien und auf einem anderen Tiraden gegen Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit sehen. In ihrer Sexualität diskriminierte Menschen würden im Zeitalter der Digitalisierung und der sozialen Medien Zugang zu einer internationalen queeren Gemeinschaft finden, wodurch sie motiviert werden, sichtbarer zu werden und in der Gesellschaft Raum einzunehmen.
Für Gevisser ist die Globalisierung ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung der Debatten in den vergangenen Jahrzehnten. Aufgrund „des beispiellosen Austauschs von Gütern, Kapital, Menschen und insbesondere von Ideen sowie Informationen […] laden Menschen auf der ganzen Welt die neuen Ideen aus dem Netz herunter und versuchen häufig, sie in ihrer jeweiligen Offlinerealität umzusetzen. Sie beginnen, anders über sich selbst, ihren Platz in der Gesellschaft, ihre Möglichkeiten und ihre Rechte zu denken.“ (S. 24) In Indien geben sich Angehörige der Mittelschicht den Anstrich des Weltbürgertums, indem sie die Entkriminalisierung homosexuellen Geschlechtsverkehrs befürworten; in Mexiko und Argentinien tut man dasselbe durch die Unterstützung der gleichgeschlechtlichen Ehe.
Täglicher Wechsel über die pinke Linie
Das bedeutet keineswegs, dass der „Westen“ das Heil bringt. Gewisser erzählt von den komplexen Zusammenhängen, wozu auch gehört, dass es in muslimisch geprägten Regionen Nigerias und Senegals eine lange Tradition der Akzeptanz eines „dritten Geschlechts“ gab. Aber in vielen Regionen der Welt ist es so, dass Menschen täglich über diese pinke Line wechseln müssen. Da ist die eine Seite, die sie auf ihrem Smartphone erleben, und die andere Seite, in der sie sich wiederfinden, wenn sie von ihrem Smartphone aufschauen.
Entlang der pinken Linie werden verschiedene Kämpfe ausgetragen. In Westeuropa werden LGBTQIA*-Rechte auch als Argument gegen die Zuwanderung von Migrant:innen genutzt, so Gevisser unter Hinweis auf Aussagen aus dem rechtsradikalen Front National in Frankreich. In Osteuropa wird die pinke Linie als Abwehr gegen einen „dekadenten westlichen Liberalismus“ genutzt. In den neuen Kulturkriegen würden gendernonkonforme Personen von der gegen Homosexuelle gerichteten moralischen Panik besonders hart getroffen. „Religiöse und politische Anführer:innen zogen eine pinke Linie zum angeblichen Schutz der ‚kulturellen Souveränität‘ und gegen die schädlichen Einflüsse des Westens, indem sie sich gegen ‚Perversionen‘ wie die gleichgeschlechtliche Ehe wandten.“ (S. 509)
Die Geschichten in dem Buch erzählen von tagtäglich erfahrenen Demütigungen, Bedrohungen und Angriffen vonseiten andersdenkender Menschen oder des Staates. Und sie berichten vom Kampf dagegen. Gevisser will, dass es besser wird, er sieht auch, dass es an vielen Orten Fortschritte gibt.