Benno Gammerl

anders fühlen

Ausgabe: 2021 | 3
anders fühlen

Mit anders fühlen legt Benno Gammerl die erste umfassende Geschichte der Homosexualität in der BRD vor. Ausgehend von der Prämisse, dass unser Fühlen untrennbar mit der Position, die wir in der Gesellschaft einnehmen, verflochten sei, wählt Gammerl einen besonderen Zugang zum Thema: er schreibt eine „Emotionsgeschichte“. Der Fokus seiner Arbeit liegt demnach vor allem auf dem Gefühls- und Alltagsleben männerliebender Männer und frauenliebender Frauen. Die Basis für seine Überlegungen bilden in erster Linie Oral-History-Interviews mit 32 Gesprächspartner:innen, die zwischen 1935 und 1970 geboren wurden.

Besonders an jenen Stellen des Buchs, an denen diese Interviewpartner:innen ausführlich zu Wort kommen, zeigt sich auch die Stärke von Gammerls gefühlsgeschichtlichem Ansatz. Denn die oft sehr eindrücklichen biographischen Erzählungen ermöglichen nicht nur einen Blick auf die subjektiven Erfahrungen einzelner Menschen, sondern eröffnen darüber hinausreichende Einsichten nicht nur hinsichtlich geschlechtlicher oder generationeller Aspekte. Anhand dieses jahrzehnteübergreifenden Einblicks in die Zeitgeschichte der Homosexualität wird deutlich, wie sich das Gefühlsleben gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert hat. Im Laufe des Buches kommen dabei die unterschiedlichsten Gefühle zur Sprache, von Angst, Scham, Trauer und Wut bis hin zu Stolz, Lust und Liebe, wobei vor allem auch die Sichtbarmachung von Ambivalenzen in der Gefühlswelt der Betroffenen beeindruckt.

In der Analyse der emotionsgeschichtlichen Darstellungen in anders fühlen kommt Gammerl zu bemerkenswerten Schlüssen, schreibt er doch dem Wandel der Gefühle zu, sowohl Effekt als auch Auslöser gesellschaftlicher Entwicklungen zu sein. Das „enorme transformative Potential“ von Gefühlen könne dementsprechend den Lauf der Geschichte verändern. So spannend diese Thesen sind, ist es doch auch ein kleines Manko dieses Buches, dass ihre inhaltliche Argumentation knapp ausfällt. Dies soll den Gesamteindruck allerdings nicht schmälern: anders fühlen ist ein lesenswertes Buch, das spannende Einblicke in ein lange tabuisiertes Thema ermöglicht.