Befunde und tiefenpsychologische Analysen zur Destruktivität

Ausgabe: 1988 | 2

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf ein vor nunmehr acht Jahren von Hans und Ute Dieckmann imitiertes Seminar in Berlin zurück, in welchem ein engagierter Kreis von Psychoanalytikern aus Gründen der persönlichen Sorge und Betroffenheit eine gesellschaftspolitische Lagebeschreibung erarbeitete. Die - im doppelten Sinne - aufregenden und wichtigen Befunde zur Destruktivität in Mythos, Geschichte und Gegenwart, sind einmal mehr Beweis dafür, daß Außenstehende, Fachleute und Laien zugleich, entscheidend neue Aspekte in die Diskussion um unsere kulturelle und politische Situation einbringen können.

Die Mythologie - dies ist eine der zentralen Thesen Dieckmanns - gibt nicht nur Einblick in die Kosmologie und das Weltverständnis unserer Vorfahren, sondern enthält zugleich auch den Hinweis auf unser gegenwärtiges und künftiges Handeln. Die Krise der Gegenwart ist weder im - falsch verstandenen - christlichen Gebot der Naturbeherrschung noch in der industriellen Revolution oder der Aufklärung begründet, sondern geht auf die muttermordenden Mythologien des okzidentalen Kulturkreises zurück. War es den östlichen Kulturen möglich, die bedrohlichen Schattenseiten der ursprünglich vereinten Muttergottheit zu integrieren, so kommt es im Westen zu einem, heute zunehmend fragwürdigen Triumph des "heroischen Sohnes" (z. B. Ödipus und Herkules) über die bedrohliche "Mutter Natur".

Die Schattenseiten dieses Sieges, der uns heute in Form der atomaren und ökologischen Bedrohung in unserer globalen Existenz gefährdet, werden an verschiedenen Beispielen verdeutlicht. Überlegungen zum Autoritätskomplex, zum Phänomen des Feindbildes (nach innen und außen) und zur kollektiven Verdrängung lassen erkennen, daß wir als Gefangene einer destruktiven Konsumgesellschaft zunehmend neurotisch und offenkundig paranoid leben und leiden. Anstatt die wachsende Zahl der Verzweifelten, durch Drogen, Tabletten oder Sekten Gefährdeten als sensible Warner zu begreifen, fahren wir fort, diese Verweigerer konsumfetischistischer Mängelbefriedigung zu isolieren und zu therapieren. Gegen diese Praxis, die die Gefahr der kollektiven Selbstzerstörung (un-)bewußt auf sich nimmt, wendet sich der Herausgeber mit eindringlichen Worten: "Analytische Psychologie im weitesten Sinne soll und muß ... Gesellschaftskritik bleiben. Sie darf nicht dazu führen, daß Menschen in eine kollektive Neurose ,hineingeheilt' werden."

Nur wenige Psychoanalytiker wagen es bisher, die wirklich entscheidenden Fragen unserer Zeit kritisch aufzugreifen. H. E. Richter und die in diesem Band vertretenen Autoren gehören zweifellos dazu. Es bleibt zu' hoffen, daß sie aufgrund ihrer Erfahrung auch dazu beitragen können, neben der Analyse konkrete Vorschläge zur kollektiven Therapie einzubringen. Der Hinweis auf die heilsame Wirkung emotionaler Lernprozesse sollte in diesem Zusammenhang erweitert und in der Praxis verstärkt erprobt werden.

Weltzerstörung - Selbstzerstörung. Eine tiefenpsychologische Analyse unserer Situation. Hrsg. v. Hans Dieckmann und Anne Springer. Olten (u. a.): Waller-Verl., 1988.337 S. DM 38,- / sfr 34,50 / öS 296,40