Es ist vielleicht ungewöhnlich für ein Medium, das sich mit der Zukunft beschäftigt diesen Band vorzustellen, dem ein Evolutionsbiologe die mögliche Geschichte der Menschheit der letzten 13.000 Jahre rekonstruiert. Doch nicht die Historie an sich interessiert den Autor und auch uns, sondern die Frage, warum die Entwicklung menschlicher Gesellschaften und Kulturen so unterschiedlich verlief. Warum etwa australische Aborigines das Stadium von Jägern und Sammlern mit Steinwerkzeugen nie verließen, während die Mehrzahl der Menschen der industrialisierten Länder längst im Zeitalter von Mikroelektronik und weltumspannender Mobilität leben?
Jared Diamond, zugleich Vogelforscher und Linguist, räumt mit Vorurteilen wie unterschiedlichen Intelligenzausstattungen einzelner Völker ebenso auf wie mit vereinfachenden Erklärungen, nach denen unterschiedliche klimatische Bedingungen zu differierenden Entwicklungsgeschwindigkeiten geführt hätten. Vielmehr zeigt er sehr anschaulich das Zusammenwirken einer Vielzahl von Faktoren in der Evolution menschlicher Kulturen auf. wobei er im Übergang zu Seßhaftigkeit und Landwirtschaft, also der Domestizierung von Pflanzen und Tieren, den entscheidenden "Kick off" für die weiteren Entwicklungsschübe sieht. Diese werden mit der Erfindung von Werkzeugen und der Schrift, dem Aufbau zentralisierter Herrschaftssysteme sowie insbesondere im Entstehen neuer Krankheiten als Folge der bäuerlichen Lebensweise (domestizierte Tiere) und der Bevölkerungsverdichtung durch bessere Nahrungsgrundlage ausgemacht. Krankheiten hätten durch Ausbreitung auf nichtresistente Bevölkerungen mehr Menschenleben gekostet als die vielen Eroberungskriege etwa im Zuge der "Entdeckung" Amerikas durch die Europäer. Nicht weniger faszinierend nachzulesen als die Geschichte der Krankheiten ist die Evolution und Diffusion der Technik, wobei mit dem Vorurteil der einsamen Erfinder ebenso aufgeräumt wird wie mit der Vorstellung, daß neue Technologien immer eine zu überwindende Knappheit als Geburtshelfer hatten.
Jared Diamond, der Biogeographie, Genetik, Molekularbiologie und Ethnologie in geschickter Weise verknüpft, legt mit dieser Abhandlung eine beeindruckende Zusammenschau über die Entwicklung menschlicher Gesellschaften vor. Er beschönigt weder den ”Siegeszug" der westlichen Kultur noch verklärt er jene wenigen verbliebenen Kulturen von Ureinwohnern. Sein Forschungsinteresse gilt dem Ziel, jenseits von Darwin und Rassenideologien zu zeigen, daß die Geschichte verschiedener Völker "auf Verschiedenheiten der Umwelt und nicht auf biologischen Unterschieden" beruht (S.32).
H. H.
Diamond, Jared: Arm und reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Frankfurt/M.: Fischer, 1998. 550 s. DM / sFr 58,- / öS 467,-