Arbeit und Demokratie

Ausgabe: 2019 | 4
Arbeit und Demokratie

Ohne Zweifel steckt die Demokratie in einer Krise. Autoritäre Regime, Populismus und das Erstarken der neuen Rechten rühren an ihrem Fundament. Das ist die warnende, gleichwohl aber pessimistische Sichtweise. Doch es gilt auch: Um Demokratie musste immer gerungen werden. Und ihre Durchsetzung verlief nie linear, sondern in Schüben. Das ist die These des Soziologen Thomas Humphrey Marshall (1893-1982). Seine Soziologie des Wohlfahrtsstaates, vorgelegt in seinem Werk „Bürgerrechte und soziale Klassen“, basiert auf dem Grundgedanken, dass die Freiheitsrechte sich in Schüben entwickelten: die bürgerlichen Rechte im 18. Jahrhundert, die politischen Rechte im 19. Jahrhundert und die sozialen Rechte im 20. Jahrhundert. Die – optimistische – Frage, die sich anschließt, lautet: Steht nun im 21. Jahrhundert eine neue Welle der Demokratisierung an? Eine, in deren Mittelpunkt direkte Partizipation und ökonomische BürgerInnenrechte stehen? Und ökonomische BürgerInnenrechte, das heißt: Wirtschaftsdemokratie.

Wirtschaftsdemokratie oder Unternehmensdemokratie ist beinahe ein Jahrhundertthema – schon in den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam die Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft auf, dann wieder nach dem Krieg, abermals in den 1960er-Jahren und seither in Wellen von 10 bis 15 Jahren, zuletzt 2015. Heute ist Unternehmensdemokratie erneut zum Thema geworden. Allerdings haben sich aber die Vorzeichen verschoben. Kam zunächst der Impuls aus den Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftssoziologie, kommt er heute entscheidend aus der politischen Philosophie. Ging es damals um eine – je nach Standpunkt – bessere, offenere, agilere, schlankere Unternehmensorganisation, rückt heute die gesellschaftliche Bedeutung der Frage, wie Unternehmen und Organisationen allgemein verfasst sind, ins Zentrum.

Der entscheidende Anstoß kam von der politischen Philosophin Elizabeth Anderson. Sie begreift die Herrschaftsausübung in Firmen als „private Regierung“: als eine Form willkürlicher, nicht rechenschaftspflichtiger Machtausübung. Die politische Philosophin Lisa Herzog wiederum denkt diese Gedanken weiter. Ihr Buch „Die Rettung der Arbeit“ ist ein entschiedenes Plädoyer für mehr Demokratie in der Welt der Wirtschaft – nicht zuletzt um der Demokratie willen. Und auch aus der Wirtschaft ertönt zunehmend der Ruf nach einer Demokratisierung der Organisationen. In den Unternehmen hat auf breiter Front eine Welle von Experimenten mit neuen Organisationsformen eingesetzt – auch unter dem Vorzeichen der Demokratisierung.

„Private Regierung“ von Elizabeth Anderson

Es ist der Verdienst von Elizabeth Anderson, die Form der Herrschaft in privatwirtschaftlichen Firmen in den politischen Diskurs einzuführen. Sie nimmt die eklatanten Verstöße gegen die Menschenwürde in amerikanischen Unternehmen zum Anlass, grundsätzlich über die Ausübung von Macht in Unternehmen nachzudenken. Sie greift damit ein Problem auf, auf das KritikerInnen der herrschenden Form der Unternehmensorganisation vielfach schon hingewiesen haben: Es gibt einen offensichtlichen Bruch, eine Kluft, einen Widerspruch im Freiheitsverständnis moderner Gesellschaften: Im Privatleben entscheiden die Menschen selbstverantwortlich, in Organisationen aber unterliegen sie mehr oder minder rigider Anweisung und Kontrolle. Im Staatswesen sind die BürgerInnen frei, in wirtschaftlichen Organisationen sind sie es nicht. In der Öffentlichkeit jedoch, im politischen Diskurs vor allem, wird über diese Diskrepanz so gut wie nie geredet. Es wird stillschweigend akzeptiert, dass Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen beim Eintritt in Organisationen enden.

Anderson fragt nun, wie es zu diesem blinden Fleck gekommen ist. Und fordert ein radikales Überdenken des Verhältnisses zwischen privaten Unternehmen und der Freiheit und Würde von ArbeitnehmerInnen. Dies sind die Themen der beiden aufeinander bezogenen Vorlesungen, die den Kern des überaus lesenswerten Buches bilden. In der ersten spürt die Autorin den Anfängen ökonomischen Denkens im England des 17. und 18. Jahrhunderts nach und liefert eine anschauliche Rekonstruktion des Entstehens der Marktideologie. Ihre fesselnde These: „Das Ideal einer freien Marktgesellschaft war früher einmal ein Anliegen der Linken.“ (S. 32) Nämlich von egalitären DenkerInnen und ParteigängerInnen egalitärer sozialer Bewegungen. Sie entwickelten die Idee einer freien Marktgesellschaft, „in der fast jeder entweder als Kleinbauer, Handwerker oder kleiner Händler selbständig ist“ (S. 60). Ihre Vision: eine wahrhaft freie Gesellschaft von Gleichen. In der industriellen Revolution jedoch gewannen Großunternehmen die Oberhand, die Vision scheiterte. Es blieb der Glaube an den Markt – als Ideologie, die auch den Blick auf das Binnenverhältnis in Unternehmen prägt.

Dort hat sich eine Form der Machtausübung etabliert, die von Anderson „private Regierung“ genannt wird: „Die private Regierung ist eine Regierung, die willkürliche, nicht rechenschaftspflichtige Macht über die Regierten hat.“ (S. 89f.) Ihr sind Beschäftigte durchgängig unterworfen, denn „die meisten modernen Betriebe sind private Regierungen“ (S. 85). Das betrifft Unternehmen ganz generell. Es betrifft die moderne Form der Unternehmensorganisation, die der militärischen Hierarchie entlehnt ist und sich von dieser nur darin unterscheidet, dass Befehle durch Anweisungen und OffizierInnen durch ManagerInnen ersetzt wurden.

Anderson stellt damit zugleich eine akademische Arbeitsteilung infrage, nach der sich die politische Theorie ausschließlich um die Sphäre des Politischen zu kümmern hat, Märkte und Unternehmen aber Sache der Ökonomie seien. Diese „falsche Verengung des Geltungsbereichs von Regierung auf den Staat“ (S. 94) lehnt sie ab. Die Verfassung der Regierung am Arbeitsplatz sei ein Gegenstand, der in die politische Diskussion gehöre, schreibt die Autorin, die auch praktische Alternativen vorzubringen hat. Anderson plädiert für eine Form der Unternehmensorganisation, in der ArbeitnehmerInnen beteiligt sind, in der sie „eine Stimme haben, für sich selbst sprechen.“ (S. 216) Sie hat dabei kein bestimmtes Modell vor Augen, vielmehr plädiert sie für Experimente: „Wir müssen experimentieren, um Nutzen und Kosten der verschiedenen Formen innerbetrieblicher Führung besser kennenzulernen.“ (S. 199)

„Die Rettung der Arbeit“ von Lisa Herzog

Elizabeth Andersons Buch liest sich wie die Steilvorlage für ein weiteres, das zentrale Gedanken aufnimmt, sie weiterdenkt und mit einer Reflexion über das Wesen und die Zukunft von Arbeit verbindet: Die Rettung der Arbeit von Lisa Herzog. Ihr Buch ist ein entschiedenes Plädoyer für mehr Demokratie in der Welt der Wirtschaft – nicht zuletzt um der Demokratie willen. Denn, so das zentrale Argument: Wie können die BürgerInnen Demokratie einüben, wenn sie die meiste Zeit ihres Lebens in Organisationen verbringen, die (zugespitzt) wie Diktaturen organisiert sind. Wo Anweisung und Kontrolle herrschen, Macht willkürlich ausgeübt wird und Führung nicht rechenschaftspflichtig ist. Von daher ist die Form der Organisation von Unternehmen keine private Angelegenheit, sondern eine öffentliche.

Das Buch beginnt mit der großen Herausforderung, die Digitalisierung für die Arbeitswelt bedeutet. Werden Menschen bald nur noch nach den Anweisungen von Algorithmen und in deren Takt arbeiten? Oder wird es gelingen, der Arbeit ein menschliches Gesicht zu geben? Das ist eine Frage politischer Gestaltung, sagt Herzog. Ihre These lautet, „dass die Arbeitswelt eine viel zu wichtige Rolle für unsere Gesellschaft spielt, als dass man sie in Zeiten des digitalen Umbruchs einfach ihrem Schicksal – oder dem ungesteuerten Wirken des freien Markts – überlassen dürfte“ (S. 9). Fünf große Herausforderungen sind es, die Herzog identifiziert und erklärt:

  • Da ist erstens ein weitverbreitetes Missverständnis über den Charakter, das Wesen von Arbeit. Arbeit wurde jahrzehntelang zu individualistisch gedacht, kritisiert Herzog, entweder ökonomisch als bloßes Mittel zur Existenzsicherung oder ebenso individualistisch als Mittel der Selbstverwirklichung. Doch „moderne Arbeit ist ihrer Natur nach arbeitsteilig, organisiert innerhalb sozialer Systeme“ (S. 17). Sie ist „eine zutiefst menschliche“, „eine soziale Angelegenheit“ (S. 9).
  • Zweitens wendet sich Herzog gegen die Annahme, die digitale Transformation und mit ihr der Wandel der Arbeitswelt komme wie eine Naturgewalt über uns – als ein selbstläufiger, nicht zu beeinflussender Prozess. Herzog fordert, den fehlgeleiteten Glauben an die unsichtbare Hand des Marktes aufzugeben und die Gestaltung der digitalen Arbeitswelt als politische Aufgabe zu begreifen – und anzugehen.
  • Drittens kritisiert Herzog die ungleiche Verteilung von Verantwortung und Haftung in Unternehmen und das „Verwischen von Verantwortung“ (S. 17) wie exemplarisch beim Dieselskandal. Sie fordert, die „Komplexität geteilter Verantwortung durch geteilte Arbeit“ (S. 106) ernst zu nehmen – und das bedeutet eine stärkere Einbindung der MitarbeiterInnen in die Entscheidungsfindung. MitarbeiterInnen müssten das Gefühl haben, mehr zu sein als ein passives Rädchen im Getriebe.
  • Das führt zum vierten Punkt: Dem Befund nämlich, „dass die Arbeitswelt zu stark durch Steuerung von oben, über viele Hierarchieebenen hinweg, geprägt ist“ (S. 18). Herzog spricht sich dafür aus, dem alten Projekt einer Demokratisierung der Wirtschaftswelt einen neuen Anschub zu geben.
  • Fünftens gehe es darum, „die Rolle der Arbeitswelt für den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren“ (S. 18). Herzog nimmt diesen Zusammenhang in den Blick. Ihre These: Wie Menschen ihre Arbeit erleben, hat auch Auswirkungen auf ihr Verhalten in der politischen Öffentlichkeit.

Die Zusammenhänge sind also vielfältig und verflochten. Herzog arbeitet diese Komplexität heraus. Ihr Buch macht deutlich, dass die Art und Weise, wie wir Arbeit organisieren und wie wir zusammenarbeiten, nicht nur unser Gefühl bei der Arbeit, unser Wohlbefinden, unseren Umgang miteinander maßgeblich bestimmt, sondern auf die Gesellschaft und die Form des sozialen Miteinanders ausstrahlt. Und maßgeblich beeinflusst, ob dieses Miteinander – sozial wie politisch – unter demokratischen Vorzeichen steht: „Demokratische Teilhabe muss im Alltag eingeübt werden. Wenn wir in unserer Arbeit, in der wir einen großen Teil unserer Zeit verbringen, nur hierarchische Strukturen erleben, wie sollen wir dann die Fähigkeit zu demokratischer Mitbestimmung erwerben?“ (S. 174) Firmen sind damit nicht länger abgekoppelte Inseln mit einer eigenen – rein ökonomischen – Binnenlogik. Das scheinbar private Spielfeld der Wirtschaftsleute erhält damit öffentliche Bedeutung. Arbeit wird politisch. Und politisch ist zu diskutieren und zu entscheiden, welche Richtung ihre Entwicklung nimmt. Das ist der Aufruf von Herzog.

Genau wie Anderson plädiert auch Herzog dafür, neue Organisationsformen zu entwickeln und experimentell zu erproben. „Hier sind Experimente mit neuen Organisationsformen gefragt“, schreibt sie (S. 3). Die gute Nachricht ist, dass diese Experimente mit neuen Formen der Unternehmens-organisation bereits begonnen haben. Auf breiter Ebene und begleitet von zahlreichen Veröffentlichungen, die die Transformation von Unternehmen in schlankere, agilere, selbstorganisierte Einheiten zum Thema haben. Und agil und selbstorganisiert bedeutet hier immer, dass die MitarbeiterInnen mehr Verantwortung bekommen, mehr selbst entscheiden und selbst bestimmen, was sie wann und wie tun. Natürlich nicht jeder für sich, sondern – weil Arbeit arbeitsteilig und gemeinschaftlich organisiert ist – miteinander im Team, partizipativ und demokratisch.

„Demokratisierung in der Organisation“ von Helmut und Dietmar Borsch

Deshalb ist Unternehmensdemokratie auch in der ökonomischen Debatte ein Thema. Interessant ist, dass dabei auch der Bogen zur Gesellschaft geschlagen wird. Wie etwa in dem neuen Buch „Demokratisierung in der Organisation“ von Helmut und Dietmar Borsch, dessen Kernsatz lautet: „Wir können unsere Gesellschaft kaum demokratisch nennen, solange wichtige Organisationen wie die öffentliche Verwaltung, Unternehmen, Verbände und Parteien in ihrem Inneren wie Oligarchien geführt werden.“ (S. 13) Die Autoren argumentieren nicht aus der Perspektive der Politischen Philosophie, ihr Ansatzpunkt ist auch nicht die Unternehmenstransformation unter digitalen Vorzeichen. Sie gehen Demokratisierung von der betriebswirtschaftlichen und juristischen Form der Unternehmensorganisation her an. Dieser nüchterne Blick zeichnet ihr Buch aus. Was nicht heißt, dass dessen Grundgedanken keine Sprengkraft entfalten würden. Ein zweiter Kernsatz: „Die Forderung nach Demokratisierung kann ethisch nicht mit einer freiwilligen Teilung der Macht begründet werden. Sie bedarf des innerbetrieblichen, verfassungsmäßigen Rechts.“ (S. 13) Sprengkraft besitzt nicht zuletzt die zentrale Forderung, denn sie zielt auf den Kern jedes Managements, die Weisungsbefugnis: Kern des Demokratisierungsansatzes der Autoren ist es, die allgemeine Subordinationsregel aufzugeben, nach der „Mitarbeiter grundsätzlich den Weisungen der Vorgesetzten unterworfen sind“ (S. 17). Die grundsätzliche Weisungsfreiheit aller MitarbeiterInnen ist das Ziel. Denn die wissen ohnehin selbst am besten, wie sie ihre Arbeit zu erledigen haben.

Fazit: Vielleicht ist es die Tatsache, dass die Demokratie unter Beschuss geraten ist, die den Blick auf ihre Defizite und ihre fatale Unvollständigkeit lenkt: Demokratisch ist unser politisches System, weite Teile unserer Gesellschaft sind es nicht. Dieses Demokratiedefizit unserer Gesellschaften rückt nun zunehmend in den Blickpunkt.

Anderson, Elizabeth: Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen und warum wir nicht darüber reden. Berlin: Suhrkamp, 2019. 259 S., € 28,- [D], 28,80 [A]

Lisa, Herzog: Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf. München: Hanser Berlin, 2019. 221 S., € 22,- [D], 22,70 [A]

Borsch, Helmut; Borsch, Dietmar: Demokratisierung in der Organisation: Das Verantwortungsprinzip und das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 2019. 413 S., € 59,95 [D], 61,70 [A]