Zukunftsszenario: Kommunikation, Vernetzung, Selbstorganisation

Ausgabe: 1995 | 3

Ohne ihm in allen Details folgen zu wollen - das vom Leiter des Schweizer Gottlieb-Duttweiler-Insitutes verfaßte Zukunftsszenario einer europäischen Gesellschaft aus dem Jahr 2005 hat seine Faszination. Bestimmt wird diese nicht mehr vom Weltbild der Newtonschen Mechanik, sondern von jenem lebender Organismen, bei denen Kommunikation, Austausch, Vernetzung und Selbstorganisation im Mittelpunkt stehen. Selbstbestimmter Umgang mit Vielfalt und permanente Ausdifferenzierung aller Lebensbereiche leiten die "Post-Moderne" ein. Das hat Konsequenzen für Wirtschaft und Politik.

Die klassische Unterscheidung in Unternehmer und Arbeitnehmer verliert zugunsten eigenverantwortlich arbeitender Teams, sogenannter "Entrepreneurs", seine Bedeutung, was u. a. den Einfluß der Frauen mit ihren kommunikativen Fähigkeiten in Führungspositionen stärken wird. Auch die Paradigmen wirtschaftlichen Erfolges werden sich ändern: Nicht mehr das Wachsen des Bruttosozialproduktes, sondern die Entwicklung des "Humankapitals" - der Autor spricht etwa von kundenorientiertem "neuem Handwerk" - wird die Stärke der europäischen Wirtschaft der Zukunft ausmachen.

Der Trend zur Globalisierung wird ergänzt durch räumliche und organisatorische Dezentralisierung. Stichwort: computerunterstützte Heimarbeit im Global Village. Die Nationalstaaten verlieren an Einfluß, sich europaweit in vielfältigen Interessensnetzen verflechtende Regionen und Gemeinden (Lutz prognostiziert u.a. eine Renaissance der "Polis") erfahren eine starke Aufwertung. So wird es weder einen europäischen Staatenbund geben, sondern ein Europa der "variablen Geometrie" als erstes “postindustrielles Gebilde". Die ökologische Frage löst der Co-Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung durch strikte Anwendung des Verursacherprinzips sowie durch eine zunehmende" Entmaterialisierung der Wertschöpfung".

Als "Problem" der selbstorganisierten offenen Gesellschaft bleiben freilich jene, die nicht mitkommen, die "Überforderten, die Perspektivlosen, die Angespülten und Ausgesteuerten". Diesen bietet der Autor eine Art Grundeinkommen ("Negative Einkommensteuer") sowie entsprechende Bildungs- und Sozialprogramme. Durchaus innovativ ist auch das Verfahren des Autors. Er entwirft eine fiktive Familie - oder besser eine offene Lebensgemeinschaft autonomer Menschen aus dem Jahr 2005, die er interviewt. Den Szenarien folgen jeweils analytische Erläuterungen und zusammenfassende Trendprofile. 

Und doch bleibt der Verdacht, daß hier einer Reideologisierung des Prinzips vom "Glück der Tüchtigen" - in den Worten des Autors - der "Lebensunternehmer" das Wort geredet wird, und die offene Frage, ob - bei allerr Kritik an verkrusteten Strukturen - mit der Auflösung staatlicher Institutionen zum Schutz von Benachteiligten nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.

H. H. 

Lutz, Christian: Leben und Arbeiten in der Zukunft. München: Wirtschaftsverl. Langen Müller, 1995. 333 S. DM/ sFr 48,- / ÖS 375,-