Harald Welzer

Alles könnte andes sein

Ausgabe: 2019 | 3
Alles könnte andes sein

„Die Veränderungsdynamik, die mit der Ökologiebewegung der 1970er aufgekommen ist, ist längst abgeebbt, ja, der modernen Gesellschaft insgesamt scheint jegliche Vorstellung abhandengekommen zu sein, dass sie anders, besser sein könnte, als sie ist.“ (S. 16) So der Befund des Soziologen Harald Welzer in Anspielung auf den Titel seines neuen Buches. In „Alles könnte anders sein“ plädiert Welzer für das „Weiterbauen an der Zivilisation der Moderne“. (S. 40) Denn es sei beileibe nicht alles schlecht: die „offene moderne Gesellschaft“ eröffne ihren Mitgliedern „die größtmögliche Freiheit, über die Menschen je verfügen durften“ (S. 23). Der Haken dabei: „Der Stoffwechsel, auf dem dieser Fortschritt beruht, ist nicht fortsetzbar im 21. Jahrhundert“ (S. 25). Die doppelte Herausforderung bestehe daher darin, die Demokratie zu verteidigen und sie auf der Basis eines neuen Naturverständnisses weiterzuentwickeln.

Siebzehn Bausteine skizziert Welzer – von ihm selbst in Anspielung an das bekannte Kinderspielzeug „Legos“ genannt – für eine weiterentwickelte Moderne. Basis sei eine gerechte Wirtschaft, die es jedem Menschen ermögliche, seine Potenziale zu entfalten. Hoch veranschlagt Welzer „Autonomie“ als „Selbst sein können und wollen“ (S. 90) sowie die Erkenntnis, dass wir in einer Welt leben. Die Flüchtlinge würden uns daran erinnern und deswegen so starke Ablehnung erfahren: „Die Überlebensbedürfnisse der einen scheinen die Komfortbedürfnisse der anderen zu bedrohen. Das reicht schon aus für die Aktivierung von Gegenmenschlichkeit“ (S. 105). Der Soziologe fordert offene Grenzen und eine Reduzierung des Konsums aus Gerechtigkeitsgründen. Er verspricht uns aber Zugewinne in punkto Lebensqualität jenseits des Konsumismus: wir würden in Zukunft weniger arbeiten (müssen),die Staatsfinanzierung würde sich von der Arbeit entkoppeln, ehrenamtliches Engagement Sinnstiftung ermöglichen. Welzer referiert hier ein von Studierenden einer seiner Lehrveranstaltungen entwickeltes „80:20 Modell“, demgemäß jeder Mensch 20 Prozent seiner bisherigen Arbeitszeit für ehrenamtliche Tätigkeit verwenden können solle, finanziert durch eine Art Teil-Grundeinkommen. Dazu passen weitere Bausteine, die im Buch beschrieben werden, wie Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Solidarität, menschliche Beziehungen, Freundlichkeit und nicht getaktete Zeit. Mit „Institutionen“ und „Infrastrukturen“ kommt Welzer schließlich nochmals auf Fundamente unserer Zivilisation zu sprechen, die nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden sollten.

Abschließend geht es um die Frage, wie der Wandel angestoßen werden könne. Welzer spricht von einem „neuen Realismus“ und „Heterotopien“, also vielfältigen Neuansätzen an vielen Orten, die einander befruchten. Anders: „Das Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt ist eine kombinatorische Arbeit, keine Revolution.“ (S. 186) Welzers Hoffnung dabei: „Mehrheiten gehen immer mit dem Wind. Sie schließen sich an, wenn man das Richtige überzeugend vorführen kann.“ (ebd.) Dazu brauche es nicht nur schöne Ideen, sondern viele Praxisbeispiele und Erprobungen – dies liegt dem von Welzer betreuten Projekt „Futur2“ zu Grunde.

Ein lesenswertes Buch mit vielen Vorschlägen, die nicht immer neu sind, hier aber zu einem Puzzle einer anderen, aufgeklärten Moderne zusammengefügt werden. Ob das Setzen auf viele kleine Veränderungen von unten letztlich reichen wird, um der Wucht kapitalistischen Expansionsstrebens genügend Sand ins Getriebe zu streuen, wird die Geschichte weisen.