Reimer Gronemeyer

Tugend

Ausgabe: 2019 | 4
Tugend

„Wie gefährdet ist unsere Gemeinschaft?“ – diese Frage stellt der Theologe Reimer Gronemeyer in seinem Buch über Tugenden. Die Bilanz fällt zwiespältig aus. Es gäbe durchaus Erfolgsmeldungen, so der Autor: Die Zahl der Armen sinkt, Bildung erreicht immer mehr Menschen („Im Jahr 1800 konnten 120 Millionen Menschen Lesen und Schreiben, heute sind es 6,2 Milliarden.“, S. 88), die globale Gewalt nimmt ab („Die Zahl der Toten, die in Kriegen gefallen sind, lag in den 1950er-Jahren bei 65.000 pro Jahr, sie lag 2006 bei weniger als 2.000 pro Jahr.“, ebd.) Doch zugleich wird die Welt brüchiger, die Krisen nehmen zu: „vom globalen Klimawandel bis zur weltweit anschwellenden Migration“ (S. 13).

Wortgewaltig beschreibt Gronemeyer die Friktionen der modernen Welt, zu denen er auch die zunehmende Erosion der Normalarbeitsverhältnisse, Künstliche Intelligenz, Automatisierung und Menschenverbesserung zählt. Sein Blick gilt der Frage, wie die ökonomischen Machtverschiebungen in der Welt bewältigt werden können und ob hierfür die christlich-antiken Tugenden der „disziplinierten Arbeitsgesellschaft“ reichen werden. Denn neben dem Erdöl würden in der modernen Konsumgesellschaft – so Gronemeyer – auch die Tugenden verschwinden. Dies zeige sich am Wegschauen vor den Flüchtlingen („Man kann nicht Kinder systematisch ertrinken lassen, ohne dass das die Seelen derer, die drinnen sitzen, zerstört.“ S. 33) ebenso wie an der zunehmenden Vereinsamung als Kehrseite der Individualisierung (in Großbritannien wurde vor Kurzem ein „Ministerium für Einsamkeit“ ins Leben gerufen, S. 47) oder dem Verlust von Empathie. Gronemeyer brandmarkt einen „entfesselten Hedonismus“ in einem „entfesselten Kapitalismus“: „Konsumismus ist die neue Moral“ (S. 30). Den Rechtsruck in vielen reichen Staaten erklärt der Autor unter anderem mit dem „Ende des weißen Mannes“ (S. 112), der die Vorherrschaft in der Welt und in den Gesellschaften verliere und dadurch in Panik gerate. Eine neue Spaltung drohe zwischen den modernen „Singlewelten, die ihre Weltbindung über Tinder oder Facebook realisieren“ und den „territorial orientierten Wagenburgen, die sich verzweifelt gegen Fremdes wehren“ (S. 46). Die neuen Reichen würden sich abschotten, sie entfliehen der Gemeinschaft, alte „Entwicklungsillusionen“ seien an der „brutalen Wirklichkeit zerschellt“ (S. 74), so Gronemeyer mit Blick auf Reichtumsstatistiken.

Was wären nun die neuen Tugenden, wenn die alten verkommen sind? Gronemeyer spricht von Zivilcourage, von Empathie, von der Fähigkeit, sich berühren zu lassen, von Sinnlichkeit („Erde unter den Füßen“, S. 103), von neuen Gemeinschaften jenseits des „räuberischen Konsumismus“ (S. 111), von der Bereitschaft, wieder aufeinander angewiesen zu sein: „Vielleicht fängt ein neuer Tugendkatalog damit an: mit der Schärfung unserer Sinne für Situationen, in denen wir von anderen gebraucht werden?“ (S. 96). „Selbstbegrenzung“, die sich vom „Wachstumswahn befreit“ (S 116), das Leben im Hier und Jetzt  als Erfahren „radikaler Gegenwart“ (S. 120), ein anderer Bezug zur Natur, die Zurückgewinnung  von „Empfindsamkeit“ wider das betäubend gemütliche „Weiter so“ (S. 129) – dies einige weitere Aspekte des Gronemeyer’schen Tugendkatalogs – allesamt Haltungen, die sich an uns als Menschen richten, und nicht als Vorschläge an die Politik, die der Autor scheut.

Der Grundton von Gronemeyers „Tugend. Über das, was uns Halt gibt“ ist ohne Zweifel pessimistisch. Es hat etwas Apokalyptisches, wenn Gronemeyer etwa von Slums in Angola berichtet, einem Land mit 90 Prozent Arbeitslosigkeit, in dem drei Viertel der Bevölkerung jünger als 25 Jahre alt sind, oder vor einem neuen Bürgerkrieg in den USA warnt – und dem Zerfall der Gemeinschaft in den Wohlstandsinseln. Anders als beispielweise Harald Welzer („Alles könnte anders sein“) oder Rutger Bregman („Utopien für Realisten“) ist Gronemeyers Blick auf die Welt ein nüchterner. Gronemeyer befürchtet mit dem Philosophen Giorgio Agamben die vermehrte Ausrufung des „Ausnahmezustands“ (S. 151), mit der sich die Macht in Zukunft legitimieren werde, und er zitiert Slavoj Zizeks „Mut zur Hoffnungslosigkeit“ (S 144). Weg von der „einlullenden Happy-End-Rhetorik“ (S. 152), keine „Wir haben ein Problem, wir brauchen eine Lösung“-Strategien (ebd.), sondern die Aufforderung an uns alle, einfach nicht mehr mitzumachen, das ist Gronemeyers zentrale Botschaft: „Flucht aus dem Mainstream ist angesagt“ (S. 153). Als Theologe hofft der Autor auch auf eine neue spirituelle Gemeinschaftlichkeit: „Indem wir geben, wird uns etwas geschenkt. Und wir beginnen zu leben.“ (S. 156)

Gronemeyers Pessimismus mag die LeserInnen etwas unzufrieden zurücklassen. Oder will er uns nur warnen, dass die Zukunft kein linearer Weg nach oben ist? Dass Schlimmeres auf uns zukommen könnte? Der Diskurs über politische Demut versus Gestaltungsanspruch, bewusstem Rückzug ins Abseits versus Sich-Einbringen in Reformvorhaben ist mit diesem Buch nicht zu Ende, er wird und soll uns weiter begleiten. Als Kassandra-Rufe taugen die Ausführungen aber allemal.