Stellschrauben für eine echte Agrarwende
Eine aktuelle Studie der Universität London fordert eine radikale Änderung unserer Essgewohnheiten und der Nahrungsmittelproduktion. Ein nachhaltiger Speiseplan enthielte demnach vor allem Gemüse, Obst und Milchprodukte, der Fleischkonsum würde jedoch auf knapp 15 Gramm pro Tag eingeschränkt, ein Bruchteil des gegenwärtigen Fleischverzehrs in den Wohlstandsländern (USA z. B. über 300 Gramm pro Tag). Wie eine zukunftstaugliche Agrarwende aussehen würde, beschreibt ein Band der Reihe „Politische Ökologie“. Thematisiert werden die deutsche und europäische Landwirtschaftspolitik, deren Ampeln noch keineswegs auf „Grün“ gestellt seien, der Artenverlust durch die industrielle Landwirtschaft, das Saatgut im globalisierten Welthandel, der Einzug von „Big Data auf dem Acker“ oder – was noch wenig untersucht ist – die sozialen und psychischen Folgen der unter permanentem Rationalisierungsdruck stehenden Landwirte („Zwischen Verbitterung und Anpassung“).
Leonie Bosshart vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen widmet sich dem Tierschutz, wobei sie neben der Tierschutzethik, die auf artgerechte Tierhaltung setzt, auch die Tierrechtsethik bzw. der „Tierbefreiungsethik“ im Blick hat, die langfristig eine „Landwirtschaft ohne Tierhaltung“ (S. 46) fordert. Dass wir davon weit entfernt sind, zeigt die Agrarwissenschaftlerin Christine Chemnitz der Heinrich BöllStiftung auf: 320 Millionen Tonnen Fleisch wurden laut der Welternährungsorganisation FAO im Jahr 2016 produziert. Bis 2050 soll diese Menge noch einmal um 85 Prozent ansteigen. Zur Erreichung des 1,5 Grad Klimaziels müsse sich jedoch auch die Landwirtschaft grundlegend verändern. Die 20 weltweit größten Fleisch- und Milchkonzerne verursachen laut einer aktuellen Studie mit knapp 933 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr mehr Emissionen als Deutschland, dem viertgrößten Industriestaat der Welt (S. 48). Die benötigten Ackerflächen für Futtermittelanbau, die in Konkurrenz zu Mischkulturen treten, die zunehmende Stickstoffbelastung des Grundwassers sowie das immense Tierleid nennt die Expertin als weitere mittlerweile bekannte Probleme der Massentierhaltung. Ihre Schlussfolgerung: „All diese Probleme lassen sich nur durch eine drastische Reduktion der Tierbestände verändern und damit einhergehend auch mit einem deutlich geringeren Konsum von Fleisch.“ (S. 53) Ein informativer Band, der unter „Gründüngung“ auch Ausblicke auf Alternativen bietet.
Erst kommt das Fressen
Wichtige Beiträge enthält auch der Band „Erst kommt das Fressen“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Ausgangsthese: „Das globale Ernährungssystem scheitert nicht nur an dem Anspruch, die Welt satt zu machen. Es schafft auch neue Abhängigkeiten und untergräbt die Selbstbestimmung von Staaten und lokalen Gemeinschaften“ (S. 3) Neben kritischen Ausführungen etwa zum Einstieg der Finanzindustrie in die Landwirtschaft („Äcker als Assets“) sowie dem Qualitätsverlust der industriell gefertigten Lebensmittel („Warum unser Essen krank macht“) werden auch Ansätze für Ernährungssouveränität und des Kampfes um den ländlichen Raum als „linke Transformationsstrategie“ (S. 26), als feministisches Projekt sowie als Alternative zum herrschenden westlichen Entwicklungsparadigma dargestellt. Darunter die wohl wichtigste Bewegung „La Via Campesina“, ein globales Netzwerk für bäuerliche Landwirtschaft und selbstbestimmte Lebensmittelerzeugung. Es werden Parallelen zur Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts hergestellt, da die Rechte und Würde der LandarbeiterInnen sowie die „Aneignung und Umverteilung von Eigentum“ (S 31) im Zentrum stehen.
Von Hans Holzinger
Zukunftstauglich. Stellschrauben für eine echte Agrarwende. Politische Ökologie, 154. München: oekom 2018. 144 S. € 17,95 [D], 18,50 [A]
Erst kommt das Fressen. Berlin: Luxemburg, Gesellschaftsanalyse und linke Praxis. 2018/1. Online verfügbar