Adam Tooze

Welt im Lockdown

Ausgabe: 2022 | 1
Welt im Lockdown

Adam Tooze ist Wirtschaftshistoriker und lehrt an der Columbia University in New York. Für einen Historiker ungewöhnlich, hat er sich in Welt im Lockdown einem aktuellen Thema gewidmet. Was andererseits auch nicht verwundert, zählt Tooze doch zu jenen Wissenschaftler:innen, die sich auch zu politischen Themen zu Wort melden (etwa zuletzt in einem gemeinsamen Beitrag mit Joseph Stiglitz in Die Zeit, in dem die beiden von einem FDP-Finanzminister Christian Lindner abraten). Aber zurück zum Thema. Tooze zeichnet, wie es einem Historiker gebührt, detailreich das Coronajahr 2020 nach – von der Ausbreitung des Virus von der chinesischen Stadt Wuhan (hinsichtlich der unterschiedlichen Theorien dazu legt sich der Autor nicht fest) über die mehr oder weniger geglückten Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie bis hin zu den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen.

Ausblicke und mögliche Lehren aus der Pandemie

Aufschlussreich sind die Ausblicke des Autors und mögliche Lehren aus der Pandemie. Tooze zitiert Befunde von Umwelthistoriker:innen, die seit längerem vor neuen Pandemien warnen, und prognostiziert, dass sich die Krisen häufen werden: „Obwohl ein solches Ereignis seit langem vorhergesagt worden war, legte Corona auf grausame Weise die tiefe Unfähigkeit der meisten modernen Gesellschaften

offen, mit der Art von Herausforderungen fertig zu werden, die das Zeitalter des Anthropozäns mit immer größerer Wucht aufwerfen wird.“

(S. 328) Der Historiker setzt auf mehr Forschung und bessere Technologien, globale Zusammenarbeit etwa im Bereich der Verteilung von Impfstoffen sowie auf gesellschaftliche Lerneffekte: „Entweder wir finden Wege, aus den Milliarden, die wir für Forschung und Entwicklung und Zukunftstechnologien ausgeben, Billionen zu machen, entweder wir nehmen

die Notwendigkeit ernst, nachhaltigere und resilientere Gesellschaften und Ökonomien aufzubauen und uns mit den dauerhaften Kapazitäten auszustatten, die erforderlich sind, um schnell um sich greifenden und unvorhersehbaren Krisen zu begegnen, oder wir werden vom Zurückschlagen unserer natürlichen Umgebung überwältigt.“ (S. 328f.) Tooze weiter, wohl auch mit Blick auf andere Umweltkrisen: „So oder so, im Guten wie im Schlechten führt kein Weg daran vorbei, dass ‚große Dinge‘ geschehen werden. Die einzige Option, die wir nicht haben, ist die Fortführung des Status quo.“ (ebd.) Wir leben in einer Zeit der „großen Beschleunigung“ und in früheren Perioden der Geschichte wäre diese Art von Diagnose vielleicht mit der Prognose einer Revolution verbunden gewesen, so Tooze. Doch heute sei nichts unrealistischer als das: „2020 war kein Moment des Sieges für die Linke.“ (S. 339)

Krisenmanagement statt Revolution

Auf politischem, wirtschaftlichem und ökologischem Gebiet gehe es um Krisenmanagement – „in immer größerem Maßstab, durch den Notfall bedingt und ad hoc“ (ebd.). Die Zentralbankpolitik des lockeren Geldes sei in diesem Sinne nicht revolutionär, sondern der Bismark’schen Devise „Alles muss sich ändern, damit alles beim Alten bleibt“ geschuldet.

Anders als in der Finanzkrise, in der Bankinstitute bedroht waren, sei der „digitale Zauberstab“ (S. 329) der Zentralbanken 2020 notwendig gewesen, „weil die Krise den wichtigsten Markt von allen gefährdete, den Markt für sichere Staatsanleihen“ (S. 330). Die Erkenntnis dabei: In der Welt der marktbasierten Finanzen sei kein Vermögenswert wirklich sicher, wenn er nicht mit einem ultimativen Schutzschirm versehen ist“ (ebd.). Tooze lässt offen, was er von der lockeren Geldpolitik hält, sie sei notwendig, die Rückkehr „in die Zeit des Nachkriegs-Keynesianismus“ (S. 330) aber nicht möglich. Er fürchtet eine Entdemokratisierung der Politik durch Technokratien, die Perpetuierung schuldengetriebenen Wachstums mit neuer Spekulation erzeuge neue Krisen. Eine Frage sei, ob wir in der Lage sein werden, die Ungleichheiten dieses Wachstumsmodells auszugleichen.

Über geopolitische Veränderungen

Neben den ökologischen und wirtschaftlichen Krisen – Tooze geht hier auch im Detail auf die neuen Programme eines Green Deal unter Biden und in der EU ein – widmet sich der Ausblick des Buches den geopolitischen Veränderungen, etwa der Gefahr neuer Kriege im Nahen Osten, allem voran aber dem Aufstieg Chinas, dem „größten Gesellschaftsexperiment aller Zeiten“ (S. 335). Tooze hofft auf eine multipolare Welt mit dem Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Man habe aus der Geschichte durchaus gelernt, meint der Historiker mit Blick auf die Finanzkrise 2008 und die Coronakrise 2020. Doch dabei werde es nicht bleiben, so der nicht ganz beruhigende Ausblick: „Jeder der Vektoren globalen Wandels – ökologisch, ökonomisch, politisch, geopolitisch – würde für sich genommen darauf hindeuten, dass das Jahr 2020 keineswegs ein Kulminationspunkt, sondern lediglich ein Moment in einem Prozess der Eskalation war. Zusammengenommen bilden sie ein dynamisches Kräfteparallelogramm, das eine Deeskalation schwer, wenn nicht gar unvorstellbar macht. Die große Beschleunigung geht weiter.“ (S. 338f.). Was also tun? Doch die Rückkehr zu dezentralisierten, resilienten Strukturen?