Welches Wachstum ist nachhaltig?

Ausgabe: 2009 | 3

„Wirtschaftswachstum gehört neben dem Bevölkerungswachstum zu den wichtigsten Triebkräften der globalen Umweltveränderungen. Obwohl die Wirtschaft Rohstoffe und Energie immer effizienter nutzt, ist weltweit keine Entlastung der globalen Ökosysteme zu beobachten.“ Mit dieser Feststellung erinnert das Herausgeberteam des vorliegenden, im Rahmen des Projektes „Wachstum im Wandel“ entstandenen „Argumentariums“ an die 1972 erstmals vom Club of Rome diagnostizierten „Grenzen des Wachstums“. Technologische Innovation allein reiche nicht aus, um eine Reduktion des Ressourcenverbrauchs insgesamt zu erzielen, die Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung ist. Notwendig seien strukturelle Veränderungen und eine neue Sicht auf Wohlstand und Lebensqualität, so die Ausgangsthese des Projektteams um Friedrich Hinterberger vom Sustainable Europe Research Institute (SERI). Dass diese Sichtweise mittlerweile nicht mehr auf einschlägige Institute der „Nachhaltigkeitsszene“ beschränkt ist, macht Rita Trattnigg, Mitarbeiterin des Österreichischen Lebensministeriums, gleich in ihrem einleitenden Aufriss zur Genese des Wachstumsdiskurses deutlich. Mit der „Lissabon-Strategie“ habe die EU zwar zum einen den Wachstumspfad prolongiert – die EU soll bis 2010 zur „wettbewerbsfähigsten Region“ der Welt aufsteigen –, parallel dazu würden jedoch Alternativen angedacht: etwa in der „Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie“ (2006), die eine Weichenstellung für „post 2010“ geben könnte, oder einer 2007 gemeinsam von der EU-Kommission, dem EU-Parlament, der OECD, dem WWF und dem Club of Rome gestarteten „Beyond GDP-Initiative“, die Ergänzungen zum Bruttosozialprodukt als Wohlstandsindikator fordert. Erwähnt werden auch zwei nationale Initiativen, die sogenannte „Stiglitz-Kommission“ des französischen Staatspräsidenten Sarkozy sowie das Projekt „Redefining Prospertiy“ der „UK Sustainable Development Commission“, die nach neuen Indikatoren für die Wohlstandsmessung suchen.

 

Wertvolle Argumente für diese Weichenstellung liefert die vorliegende Studie. Einer Klärung von Begriffen wie Wirtschaftswachstum, Wohlstand oder Wohlfahrt folgen Analysen zu den „Triebfedern des Wachstums“, dem Zusammenhang von Wachstum, Innovation und Umweltzerstörung (z. B. Reboundeffekte) sowie – und das mag für manche neu sein – zu den „psychologischen Triebfedern des Wachstums“, etwa dem verbreiteten Suchtverhalten.

 

Spannend zu lesen sind die Ausführungen zur These, „warum anhaltendes wirtschaftliches Wachstum möglicherweise nur ein Ausnahmefall der Geschichte sein könnte“ (S. 54). Gesehen werden drei Gründe: „Konsumzurückhaltung, Freizeit als von den Menschen gewünschtes Gut und systemimmanenter Wachstumsrückgang“ (ebd.). Konsumzurückhaltung kann – so das Projektteam – mit erneutem Sparen (was derzeit angesichts der „Krise“ ja passiert), einer alternativen Befriedigung von Bedürfnissen (z. B. mehr Zusammensein mit Familie und Freunden statt Statuskonsum) sowie einer frei gewählten „neuen Einfachheit“ (voluntary simplicity) zusammenhängen. Eine wichtige Rolle wird dem Bedürfnis nach mehr (frei verfügbarer) Zeit zugeschrieben, das zu neuen Konsummustern, bewusster Inkaufnahme finanzieller Einbußen und auch zu anderen Formen der Arbeit (Konzept der „Mischarbeit“) führen könnte. Der systemimmanente Wachstumsrückgang wird schließlich in der physischen Unmöglichkeit exponentiellen Wachstums gesehen, das als „wachsendes Wachstum“ bezeichnet wird (allein ein exponentielles Wachstum von 2 Prozent bedeutet eine Verdoppelung alle 35 Jahre). Zitierten Ergebnisse des Instituts für Wachstumsstudien in Gießen zufolge sind alle „entwickelten Volkswirtschaften“ mittlerweile zu linearem Wachstum übergegangen (Zu ergänzen ist, dass es derzeit sogar Schrumpfung gibt, was etwas verwirrend mit Negativwachstum umschrieben wird).

 

 

 

Neue Kapitalformen

 

Hilfreich am vorgelegten „Argumentarium“ ist schließlich die Ausweitung des Kapitalbegriffs (S. 82). Dem Finanzkapital komme demnach nur mehr eine begrenzte Rolle zu, bedeutender würden Sachkapital (bereits vorhandene Infrastrukturen), Naturkapital („Land, Wasser, Atmosphäre und die darin enthaltenen Naturressourcen“), Humankapital („körperliche Fähigkeiten von Menschen, ihre Intelligenz und ihr Wissen“, „Dimensionen, die zu Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit beitragen, wie Gesundheit, Ausbildung und Glück“) sowie Sozialkapital („Netzwerke von Einzelpersonen und Gruppen, die der Gesellschaft Mehrwert liefern und das Teilen von Informationen einschließen“). Die Einbeziehung aller Kapitalformen ermögliche nun, so die einleuchtende Schlussfolgerung, eine Neudefinition von Wachstum: „Wachstum von Human- und Sozialkapital und Erhaltung oder gar teilweiser Ausbau von Naturkapital geben dem Sach- und Finanzkapital eine veränderte Rolle.“ (S. 83). Aufgabe von Nachhaltigkeitsstrategien sei dann „das Management der Kapitalformen“ im Sinne von Wohlfahrt.

 

Die dem „Argumentarium“ angefügten Kurzbeiträge von insgesamt 26 WissenschaftlerInnen (aus dem gesamten deutschen Sprachraum) können hier nur exemplarisch angedeutet werden. Der an der Universität Oldenburg lehrende Ökonom Niko Paech – von ihm stammt die Strategie der alternativen Befriedigung von Bedürfnissen – skizziert das Bild einer „Postwachstumsökonomie“, die auf „Entrümpelung und Entschleunigung“ sowie auf einer „Neujustierung der Balance zwischen Selbst- und Fremdversorgung“ basiert. Eine schrittweise „De-Globalisierung“ (Walden Bello) würde „kein Zurück in die Steinzeit“ bedeuten, so Paech, sondern regionalwirtschaftliche Ansätze ins Zentrum rücken, die ebenso „Handlungsfelder für technische Innovation und unternehmerisches Agieren“ böten.

 

Michaela Moser, Vizepräsidentin des Europäischen Antiarmutsnetzwerks, weist in ihrem Beitrag „Es ist genug für alle da“ zu Recht auf die Notwendigkeit hin, die Verteilungsperspektive in den Nachhaltigkeitsdiskurs zu integrieren. Überdies plädiert sie – in Ergänzung zu anderen – für die erneute Stärkung der „Care-Perspektive“, also aller „der Erhaltung des Lebens“ dienenden Aktivitäten. „Wachsende Sorge“ stünde in diesem Sinne nicht länger für den angstvollen Blick in die Zukunft, sondern gemäß dem „Konzept der Fürsorge“ für die „Einsicht in die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels“ (S. 201).

 

Andreas Breitenfellner, Mitarbeiter der Österreichischen Nationalbank, hinterfragt gängige Sichtweisen des Wirtschaftsdiskurses: „Die Annahme, dass Finanzmärkte das Niveau als auch die langfristige Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkomens direkt beeinflussen, gilt als eine der höchst kontroversiellen Prädispositionen der modernen Makroökonomie“ (S. 97). In der aktuellen Finanzkrise der „Blasen“ sieht der Ökonom das „Scheitern des Versuchs, den Wandel hin zu linearem statt exponentiellem Wachstum aufzuhalten“ (ebd); er verweist (einmal mehr) auf die ökonomischen Folgekosten der Umweltzerstörung (etwa des Klimawandels) und sucht schließlich nach einer Ökonomie, die „auf die Optimierung statt auf die Maximierung des Wachstums“ (S. 122) orientiert ist.

 

 

 

Neue Unternehmensformen

 

Der Schweizer Ökonom Hans Christoph Binswanger, der den immanenten Wachstumszwang des kapitalistischen Systems dargelegt hat („Die Wachstumsspirale“, 2006), weist überzeugend darauf hin, dass eine nachhaltige Wirtschaftsweise „institutioneller Reformen“ bedürfe, die über die Erhöhung der Ressourceneffizienz und konventionellen Umweltschutz hinausgehen. Er nennt vier solcher Reformen (S. 225ff): 1) Ersetzung des Gesellschaftsrechts der Aktiengesellschaft (in die ein besonderer „Wachstumsdrang“ eingebaut ist) durch „eine Unternehmungsform, die auf dem Stiftungsrecht beruht, d. h. die auf das in der Stiftungsverfassung genannte Produktionsziel ausgerichtet ist“. 2) Reform des Geldsystems zur Minderung des Wachstumszwangs dergestalt, dass Geldschöpfung nur mehr der Zentralbank obliegt; Banken würden verpflichtet, das Buchgeld zu 100 Prozent durch Zentralbankguthaben bzw. Banknoten zu decken. Dies würde auch die Krisenanfälligkeit des Finanzsystems verringern und damit die ökonomische Nachhaltigkeit erhöhen: „Die Gewinne werden geringer, aber die Sicherheit wird größer.“ 3) Anpassung der Eigentumsformen an das Nachhaltigkeitsziel durch Wandel vom Eigentumsrecht des „Dominium“ (Recht zum bedenkenlosen Gebrauch und Verbrauch der Natur) hin zum „Patrimonium“ (Recht, sein Eigentum so zu nutzen, dass man es seinen Kindern weitervererben kann); gemeint sind der Einbau von Eigentumspflichten „für einen sorgsamen Umgang mit den Naturgütern“. 4) Integration der Eigenarbeit und „eines unter Umständen obligatorischen Sozialdienstes“ in die Einkommenspolitik. Allein diese vier Vorschläge geben wohl genügend Stoff für weitere Diskussionen. So stellt der Band eine wertvolle Grundlage zur vertiefenden Auseinandersetzung mit strukturellen Weichenstellungen dar, die Nachhaltigkeit von der beliebten Formel für Sonntagsreden zur ernst genommenen Zukunftsstrategie werden lassen.

 

H. H.

 

Welches Wachstum ist nachhaltig? Ein Argumentarium. Hrsg. v. Friedrich Hinterberger... Wien: Mandelbaum-Verl., 2009. 234 S., € 17,80 [D],

 

18,50 [A], sFr 30,50; ISBN 978385476-296-6