Wachstum, Wachstum über alles?

Ausgabe: 2007 | 4

Lassen sich die heutigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme tatsächlich mit einer Strategie lösen, die allein auf Wirtschaftswachstum setzt? Und ist langfristiges Wachstum einer Volkswirtschaft angesichts absoluter Grenzen des ökologischen Systems überhaupt möglich? Diese Fragen waren Ausgangspunkt einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll in Kooperation mit den BUND-Arbeitskreisen Wirtschaft und Finanzen sowie Internationale Umweltpolitik im November 2006. Die im vorliegenden Band dokumentierten Beiträge thematisieren Wachstum demnach im ökologischen und sozialen Kontext, auch wenn ersterer im Mittelpunkt steht.

 

Der Volkswirtschaftler Rudi Kurz hält angesichts des „faktischen Deutungsmonopols des Wachstumsparadigmas eine intellektuelle Auseinandersetzung für überfällig“. Ein Paradigma gerate erst dann in die Krise, so seine Überzeugung, „wenn es sein Versprechen im Kern nicht mehr erfüllen kann“ (S. 18). Das heißt: „Wenn Wirtschaftswachstum – in der Wahrnehmung relevanter Teile der Gesellschaft –  nicht mehr mit einer Zunahme des Wohlstands verbunden ist, dann ergibt sich die Chance für die Durchsetzung eines neuen Paradigmas, das ein attraktiv(er)es Erfolgsversprechen bietet.“ (ebd.) Paradigmen seien jedoch „Immunisierungsstrategien“ ausgesetzt, die den notwendigen Wandel verzögern können. Kurz bleibt in seiner Positionierung ambivalent. Wachstum löse nicht alle Probleme, besitze aber aufgrund seines „multidimensionalen Erfolgsversprechens“ hohe Akzeptanz. Er plädiert für die Steigerung der Öko-Effizienz (die Energie- und Rohstoffeffizienz hat in Deutschland zwischen 1990 und 2005 um 2 Prozent p. a. zugenommen, nötig seien aber mindestens 4-5 Prozent) durch Beeinflussung der Innovationsrichtung (z.B. sparsame Antriebe), Erhöhung der Diffusionsgeschwindigkeit sowie Überwindung politischer Durchsetzungshemmnisse (bedrohte Interessen haben „hohen Organisationsgrad“). Da Effizienzgewinne alleine zu unsicher seien, plädiert der Volkswirtschaftler für die Koppelung mit einer Suffizienzstrategie. Diese wird im Beitrag von Manfred Linz und Kora Kristof an späterer Stelle näher und sehr ansprechend ausgeführt! Die beiden gehen aus von einem erweiterten Wohlstandsbegriff, der Güter, Zeit und Beziehungen umfasst. Die Mehrheit werde aber für Suffizienz – so die Überzeugung – eher durch negative Aspekte, die Abwehr von Gefahren gewonnen.

 

Die Folgebeiträge sind den Grenzen des Wirtschaftswachstums im Kontext von Ressourcenverknappungen gewidmet und fallen demnach wachstumskritisch(er) aus. Es geht  darin u. a. um eine ökonomische Bewertung von Biodiversität (Ralf Döring plädiert für eine an „ökologischen und sozialen Leistungen orientierte Agrarförderung“) sowie um unterschiedliche Methoden zur Erfassung von Stoffströmen (Sören Steger und Raimund Bleischwitz konstatieren in der EU durchaus Fortschritte hinsichtlich Ressourcenproduktivität, die jedoch noch nicht zu einer Dematerialisierung, sondern vielmehr zur Transmaterialisierung“ geführt habe.

 

Den Blick auf die gesamte Welt(wirtschaft) wirft schließlich Joachim Spangenberg in seinem Beitrag „Das Überlebensspiel“. Er geht von drei Akteursgruppen aus: den Wohlstandsländern (Industrialized Countries/ICs: hohe Durchschnittseinkommen, noch mittelschichtdominiert, überwiegend öffentliche soziale Sicherung; sie stellen zwei Drittel der „globalen Konsumentenklasse“), den NICS (Newly Industrialising (Süden) bzw. Newly Independent Countries (Nachfolgestaaten der Sowjetunion), allen voran die BRICS-Länder Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika; Merkmale: wenig Mittelschicht, viel Armut und meist eine Mischung aus öffentlichen und familialen Sicherungssystemen; sie stellen ein Drittel der globalen Konsumentenklasse) sowie den ärmsten Ländern (hohe Einkommenspolarisierung in eine kleine Geld- und Machtelite mit Einkommen aus Monopolrenten und Korruption, ansonsten Armut und Subsistenzwirtschaft mit familialer sozialer Sicherung). Letztere trügen derzeit kaum zum Ressourcenverbrauch bei, seien jedoch am meisten von Umweltkrisen betroffen. Die Ressourcenkonflikte der Zukunft hingegen würden zwischen Wohlstandsländern (ICs) und NICs ausgetragen. Möglich sind für den Autor vier Szenarien zwischen kompetitiver Machtpolitik und kooperativem Interessensausgleich (s. Kasten S. 24).

 

Spangenberg spricht sich für eine Wirtschaft aus, deren Ressourcenverbrauch nicht mehr steigt (steady state economy).

 

Der Slogan „Nehmen Sie sich Zeit – man vergönnt sich ja sonst nichts“ der Verbraucherzentrale NRW, zitiert von BUND-Vorsitzender Angelika Zahrnt in ihrem Schlussstatement, könnte somit zu einem Zukunftsmotto neuer Lohnverhandlungen werden. Denn: Ohne Suffizienzstrategien in den reichen Gesellschaften wird es wohl nicht gehen. H. H.

 

Wachstum, Wachstum über alles? Ein ökonomisches Leitbild auf dem Prüfstand von Umwelt und Gerechtigkeit. Hrsg. v. Sven Rudolph. Marburg: Metropolis, 2007. 225 S., € 19,80 [D], 20,40 [A], sFr 35,40

 

ISBN 978-3-89518-621-9