Carolin Amlinger legt hier eine Ideengeschichte des Verhältnisses von Ideologie und Wahrheit vor. Dabei entdeckt sie eine Entwicklung der Theorie, die sich auch in anderen Debatten wieder findet. Aber der Reihe nach. Amlinger beginnt bei Karl Marx, der zuerst Ideologie immer als falsches Bewusstsein verstand, das aus dem historischen Lebensprozess hervorging. Die Wahrheit hingegen sei ein „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“, das gegen die Ideologie gestellt werden müsse. Wahrheit ist, so verstanden, die Rückführung des aus der Realität hypostasierten Denkens auf das historische Gesamte.
Marx selbst revidierte dies. Denn auch die Wahrnehmung des Ganzen geht daneben. In den Fetischanalysen des Kapitals übertrug er demnach die ideologische Verkehrung des Bewusstseins auf die gesamte Struktur der Wirklichkeit. Marx macht dies am Warenfetisch fest, indem er argumentiert, dass der Wert der Ware ihre Natureigenschaft selbst ist. Jetzt wird Wahrheit bei Marx die Konfrontation der Erscheinungsform der Warenwelt mit ihren gesellschaftlichen Grundlagen.
Amlinger setzt mit Theodor Adorno, Horkheimer und Georg Lukács fort. Für diese Autoren sei in Anlehnung an Marxsche Analysen zum Warenfetischismus das gesellschaftliche Ganze zu einer verdinglichten Identität des Allgemeinen geworden. Das Totale sei nicht mehr aus sich heraus in Frage zu stellen, das Besondere, Andere müsse dazu in Widerspruch gebracht werden. Erst im Herstellen des Inkommensurablen konstituiere sich Wahrheit.
Louis Althusser sieht die Wissenschaft als Akteur, der durch theoretische Praxis das geschlossene System der Ideologie aufbrechen könne. Ideologie sei nach Althusser ein imaginäres Verhältnis der Subjekte zu ihren realen Existenzbedingungen. Sie werde gestiftet in der materiellen Praxis der Subjekte, die durch ideologische Staatsapparate präformiert werde.
Schließlich denkt Amlinger mit Zizek weiter. Zizek meint, dass die Subjekte zwar um den fetischistischen Schein der Verhältnisse wissen, aber dennoch so handeln, als ob sie an ihn glaubten. Ideologie ist somit kein Wissen oder Nicht-Wissen über die Wirklichkeit, sondern ähnlich wie bei Althusser ein Glaube, der sich in der Praxis verwirkliche. Für Zizek geht es also darum, den Glauben an die kapitalistische Ordnung zu überwinden.
Amlinger kommt zu der interessanten Beobachtung: „Der Kapitalismus sichert sein Fortbestehen einerseits, indem die ideologische Herrschaftssicherung extensiv ausgeweitert wird. Sie wird vom Bewusstsein (Marx/Engels) auf die Wirklichkeit (Lukács, Adorno/Horkheimer) und von der Wirklichkeit auf die Tiefenstruktur des Subjekts (Althusser, Zizek) erweitert. Folgt man der Argumentation der Autorin, werden also quantitativ immer mehr Bereiche dem ideologischen Kapitalverhältnis untergeordnet und ´formell subsumiert´. Damit geht andererseits auch eine qualitative Veränderung ideologischer Unterordnung einher: Sie wird in der Ausweitung auch intensiver. War das Ideologische zunächst eine falsche Repräsentation, ein verdrehtes Abbild des Bewusstseins (Marx/Engels), verändert es sich im Verlauf der Argumentation zu einem komplexen Mechanismus der Herrschaftssicherung, der nicht nur die Praxis der Subjekte integriert (Althusser), sondern auch deren Glauben (Zizek) real subsumiert. (S. 167)
Amlinger, Carolin: Die verkehrte Wahrheit. Hamburg: LAIKA, 2014. 191 S., € 19,90 [D], 20,50 [A] ISBN 978-3-942281-63-8