In der westlichen Öffentlichkeit der vergangenen Jahrzehnte dominieren in zunehmendem Maße Verunsicherung und Pessimismus gegenüber künftigen Entwicklungen. Der spürbarer werdende Klimawandel verschärft dies weiter. Zugleich gibt es inzwischen eine unüberschaubare Fülle alternativer Konzepte und Projekte, die teilweise utopischen Charakter aufweisen, und als solche auch intendiert sind: „reale Utopien“ wie Erik Wright sie nennt. Allerdings findet das Denken in Alternativen, das utopische Denken und noch weniger utopisches Handeln in der vorherrschenden Politik keinen Platz. Diesen Widerspruch zwischen steigendem Alternativbedarf und träger Realpolitik untersucht die Kölner Politikwissenschaftlerin Maahs in ihrer Dissertation.
In stringenter Weise wird die Thematik in vier Schritten bearbeitet. So wird eingangs in dem Kapitel „Vom Tod und Leben der Utopie“ die heutige politische Problemlage und der wissenschaftliche Diskurs darüber skizziert. Hier kommen ausführlich die Auffassungen von Befürwortern und von Kritikern utopischen Denkens zu Wort. Dabei greift Maahs bis in 19. Jahrhundert zurück und zitiert wichtige Klassiker zukunftsbezogenen Denkens, die heute teilweise kaum noch als Bezugspunkte genutzt werden. Danach wird Utopie als Produkt menschlicher Kreativität, als ein „Kunstwerk“ beschrieben. Neben einer Begriffsbestimmung werden Kreativität und Utopie aufeinander bezogen und Faktoren beschrieben, die auf die Gestaltung von Utopien einwirken. Bezug genommen wird auf literarische Traditionen mit utopischem Gehalt. Sogar einige „unvollständige Kunstwerke“ im Sinne von utopischen Skizzen werden kurz vorgestellt. Darauf aufbauend nimmt Maahs eine Analyse gesellschaftspolitischer Alternativmodelle zum Status quo vor. Zum Einen werden utopische Gesellschaftsentwürfe in literarischen Werken nach 1990 dargestellt. Für jedes Utopiebeispiel gibt es einen kurzen konzisen Überblick, die Benennung der jeweils enthaltenen Zeitkritik und die jeweilige utopische Alternative, was das Verständnis sehr erleichtert. Zum anderen werden anschließend „Gelebte Utopien der Gegenwart“, also Praxisbeispiele beschrieben. Das Verhältnis zwischen diesen gelebten und den literarischen Utopien wird miteinander verglichen und mannigfaltige Überschneidungen bei den zugrundeliegenden Werten festgestellt. Im vierten Hauptkapitel geht es um Utopisches Denken in der politischen Praxis der Gegenwart. Dabei werden Elemente von Utopien in der heutigen Politik ausgemacht, politisch handlungsfähige Bürgerinnen und Bürger als Voraussetzung utopischer Prozesse benannt und schließlich realpolitische Potenziale des Utopischen in der heutigen Zeit herausgearbeitet. Dieser letztgenannte Aspekt ist eine besondere Leistung der Autorin, und dies geht über das hinaus, was bislang in diesem Themenfeld vorgestellt worden ist.
Vor diesem breiten Hintergrund kommt Maahs zu dem Schluss, dass in der heutigen Gesellschaft die die Auffassung vorherrsche, dass nicht die Suche nach Alternativen illusorisch sei, sondern die Alternativlosigkeit selbst die Illusion darstellt. Eine problematische Konsequenz des Utopieverzichts sei, dass immer mehr Menschen auf die Perspektiv- und Utopielosigkeit entweder mit Gewalt oder mit Depression reagieren. Daraus entwickelt sie die „These, dass politisch gezielt genutzte Utopien kreative Potenziale entfalten können, um die bestehende Realpolitik innovativer, bürgernäher, nachhaltiger und gemeinwohlorientierter auszurichten“ (S. 283). Wichtig ist ihr hierbei, auf Basis ihrer kritischen Analyse früherer Utopien, dass das heutige utopische Genre eine neue Stufe kritischer Selbstreflexivität erreicht hat, „auf der das Umschlagen der gesellschaftlichen Ordnung ins Negative stets mitgedacht wird.“ (S. 109) Diese differenzierte Vorgehensweise nimmt Maahs selbst ernst, indem sie eine lange Reihe positiver Ansatzpunkte von Utopien für Politik benennt, zusätzlich aber auch zur Vorsicht mahnt und „wichtige Grenzen der Utopie als politisches Instrument“ anführt (330f.).
Ein finaler Teil des Buches sei hier zitiert. Nach Auswertung der literarischen und der praktischen Utopien resümiert Maahs folgende Überschneidung „querschnittlicher Alternativideen“. Diese finden sich insbesondere „in Ansätzen:
- eines anderen Wirtschaftssystems, das Kooperation und Tausch statt Wettbewerb und Wachstum betont,
- der Abschaffung oder Modifikation des aktuellen Geldsystems,
- neuer Formen des Zusammenlebens, die einen gelungenen Ausgleich zwischen Individuum und Gemeinschaft eröffnen und eine starke Solidargemeinschaft schaffen,
- einer Erziehung, die immaterielle Werte und Gemeinschaftssinn vermittelt,
- einer Verkleinerung der zentralen politischen Einheit,
- einer gezielten und verantwortungsvollen Nutzung von Technologie, ohne die Natur zu zerstören,
- einer stärkeren Verankerung direktdemokratischer Prozesse,
- einer Beförderung der Selbstversorgung und
- einer umweltfreundlichen Lebensweise.“ (S. 221)
Diese Dissertation bietet sowohl theoretisch-konzeptionelle und belletristische als auch real und aktuell praktizierte Beispiele über Utopien und ihre Beziehungen zu Politik im weiten Sinne. Mit diesem Buch liegt ein ungemein fundierter und differenzierter Überblick über die Thematik vor. Es liefert eine breite systematische Analyse wichtiger und interessanter utopischer Literatur. Zudem bietet es wichtige Anregungen für eine spürbare Zukunftsausrichtung der heutigen Politik und leistet somit einen Beitrag zur für eine umfassende demokratische Transformation. Eine Bereicherung für aktive Menschen, denen Veränderung am Herzen liegt!