
Mit der „imperialen Lebensweise“ haben die Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen einen Begriff geprägt, der auf die Verstrickung von uns allen in die Übernutzung der natürlichen Ressourcen sowie der Ausbeutung der Menschen im globalen Süden verweist. In ihrem neuen Buch „Kapitalismus am Limit“ erweitern sie ihre Analyse dahingehend, dass sich mit der Ausweitung der „imperialen Lebensweise“ auch in den Transformationsländern die sozialen und ökologischen Krisen weiter verschärfen werden und dies den Kapitalismus eben an seine Grenzen bringen würde. Dazu kommen – so die Autoren – zwei weitere Verschärfungen, die digitale Revolution sowie die Folgen des grünen Kapitalismus selbst: „Die Krise wird dadurch verschärft, dass der Bedarf an Rohstoffen und Energie für die globale kapitalistische Produktions- und Wachstumsmaschinerie immer noch zunimmt, nicht zuletzt durch die Digitalisierung und partielle Dekarbonisierung, die sogenannte twin transition“ (S. 20). Die „billige Natur“ in Form von Rohstoffen, Energie oder CO2-Senken, auf die der Kapitalismus angewiesen sei, werde teurer und zunehmend umkämpft. Dies führe zur Zunahme der geopolitischen Spannungen und zu neuer militärischer Aufrüstung, die wiederum den Ressourcenverbrauch in die Höhe treibe und die öffentlichen Haushalte der Staaten belaste. Die Autoren sprechen von neuen „öko-imperialen Spannungen“: „Sie entstehen im Verhältnis der kapitalistischen Zentren untereinander sowie zwischen diesen und aufstrebenden Ländern wie China und Indien“ (S. 21).
Zur ökologischen Modernisierung des Kapitalismus
Die ökologische Modernisierung des Kapitalismus berge durchaus ökonomische und ökologische Potenziale, sei aber ambivalent und zugleich umkämpft, da ihr reaktionäre, die Fossilwirtschaft verteidigende Gegenkräfte zusetzen würden. Die Folge wäre in jedem Fall die Zunahme von Spannungen und Krisen. Eine zentrale These der Politikwissenschaftler lautet daher: „Die Funktionalitäts- und Legitimationsreserven von grünen und autoritären Kapitalismusmodellen dürften folglich äußerst begrenzt und schnell aufgebraucht sein“ (S. 23). Die Fähigkeit kapitalistischer Gesellschaften, „die eigenen Widersprüche im Rahmen liberaldemokratischer Verfahren zu bearbeiten“, erodiere: „Die Grenzen der liberalen Demokratie als eine dem Kapitalismus im globalen Norden lange Zeit adäquate politische Form zeichnen sich ab“ (S. 21).
Eine Zunahme der ökoimperialen Spannungen
Die hegemonialen Potenziale des „grünen Katastrophenkapitalismus“ (S. 90) seien begrenzt – aus diesem Grund kritisieren Brand und Wissen auch den Europäischen Green Deal, die Zuspitzung der ökologischen Krise werde zum „game changer“. Der Ausgang sei ungewiss, die Autoren meinen aber: „Wahrscheinlich ist, dass der Kapitalismus in nicht allzu ferner Zukunft endet“ (S. 91). Wie dies geschehen werde, wie lange sich der Kapitalismus noch stabilisieren könne und wie eine postkapitalistische Produktionsweise beschaffen sein wird, zeichne sich erst in Ansätzen ab. Diese werde wesentlich vom Ausgang der Kämpfe um eine ökologische Modernisierung, autoritäre Stabilisierung oder „solidarische Überwindung der imperialen Lebensweise“ (ebd.) abhängen.
Mit Antonio Gramsci sprechen Brand und Wissen von einer „passiven Revolution“ (S. 99), mit der die Politiken der Europäischen Union, aber auch jene in den USA und China, versuchten, den Kapitalismus ökologisch zu modernisieren, mitgetragen von den Gewinnerbranchen dieser Transformation. Neue geopolitische Spannungen seien aber vorprogrammiert: „Aktuell kommen 100 Prozent der schweren Seltenen Erden und 85 Prozent der leichten Seltenen Erden für die EU aus China, 79 Prozent des Lithiums aus Chile“ (S. 113). Diese monopolartigen Lieferketten würden zu starken Transformationskonflikten führen, so die Autoren. Die neoliberale Globalisierung „als Projekt der Vermögenden und der ihre Interessen vertretenden politischen Repräsentant:innen“ (S. 139) werde abgelöst von einer „selektiven Deglobalisierung“ (ebd.), eine „neue Geopolitik der Lieferketten“ (S. 141) mit einer Diversifizierung und Verlagerung von Produktionsnetzwerken sei die Folge.
Grüner Extraktivismus als Problem
An zahlreichen Beispielen belegen die Autoren, wie sich die Nachfrage nach Rohstoffen im Zuge der Dekarbonisierung weiter beschleunigt. Es entstehe eine Art grüner oder postfossiler Extraktivismus, „der weder ökologisch noch sozial ist“ (S. 154). Eine Zunahme der „öko-imperialen Spannungen“ wird prognostiziert: „Die Herausbildung der Mittelklassen in den Schwellenländern führt zu einer Expansion der imperialen Lebensweise und zu einer Verschärfung der ökologischen Krise, aber eben auch zu einer Abnahme der klassischen Möglichkeiten der Externalisierung durch den globalen Norden.“ (S. 161). Unter der Bedingung kapitalistischen Wachstums bedeuteten Strategien der Dekarbonisierung keine Reduktion des Rohstoffverbrauchs, sondern lediglich deren Verlagerung. Ohne grundlegenden Umbau sowie einen Rückbau zentraler Sektoren der Wirtschaft könne die Transformation daher nicht gelingen.
Notwendig sei ein sich vom Individualismus und Konsumismus verabschiedendes Verständnis von Freiheit, das den Schutz der Lebensgrundlagen aller in den Mittelpunkt stellt: „Die Aufwertung der für das Überleben und ein gutes Leben aller nötigen Infrastrukturen ist die Essenz zahlreicher progressiver Kämpfe, wie sie sich derzeit weltweit beobachten lassen“ (S. 228). Dies werde aufgrund der Klimakrise „zu einer Frage des Überlebens“ (ebd.). Es gehe um vergesellschaftetes Wohneigentum, lokale und klimaangepasste Ernährungssysteme, funktionierende Einrichtungen der Pflege und Gesundheitsfürsorge ebenso wie um ein nachhaltiges Mobilitätssystem, um die Anerkennung von Klimabedrohung als Fluchtgrund, die Rückgabe von Territorium an lokale Bevölkerungen sowie das „Recht zu bleiben“ (S. 234).
Das Buch bietet wichtige Analysen
Wie dieser Wandel eingeleitet werden soll, beschreiben Brand und Wissen am Ende des Buches nur mehr in Stichworten. Sie plädieren für „Oppositionszentren“ in den staatlichen Apparaten (S. 238), „transformative Zellen“ (S. 240) in allen Institutionen und Gesellschaftsbereichen, Klimaklagen sowie eine „Vergesellschaftung des Rückzubauenden“ (S. 242), insbesondere des Energie- und Mobilitätssektors. Resümee: Das Buch bietet wichtige Analysen, ob die grüne Modernisierung des Kapitalismus diesen nicht doch überleben lassen wird, bleibt offen, die Transformation in Richtung moderner Grundbedürfnisökonomien ist weiter zu konkretisieren.