Olga Tokarczuk

Übungen im Fremdsein

Ausgabe: 2023 | 3
Übungen im Fremdsein

In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Literaturnobelpreises 2018 hat die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk einige sehr präzise Sätze über unsere Wahrnehmung der Welt gesagt. Sie konstatierte, dass wir für die rasend schnellen Veränderungen heute noch keine passenden Erzählformen gefunden haben. Die Coronakrise hat sie dann genutzt, ihr essayistisches Werk zu ordnen. Welch ein Glück. Denn entstanden ist dabei ein Essayband mit inspirierenden Texten, der nun auch in deutscher Sprache vorliegt. In ihren Essays reflektiert Tokarczuk über ihr Schreiben, die Wahl ihrer Themen und die Perspektiven ihres Erzählens. Das mag als l’art pour l’art erscheinen, doch darf nicht vergessen werden, dass Kunst und Literatur – in Letzterer am deutlichsten in der Auflösung der Perspektive des allwissenden Erzählers im Roman – zuerst die Auflösung einer zentralen Weltsicht vollzogen haben.

Zwei kleine Entdeckungen beinhaltet die Essaysammlung. Zum einen Tokarczuks Reflexion über Übersetzer:innen und Übersetzung – eine Funktion, die in einer in hoch spezialisierte Funktionen und Bereiche gegliederten Gesellschaft immer wichtiger wird. Tokarczuks Text ist eine Lobeshymne auf die Kunst des Übersetzens und regt an, die erweiterte Bedeutung mitzudenken. Zum anderen der Text, der mit dem Neologismus „Ognosie“ überschrieben ist. Darin schlägt die Literatin einen neuen, komplexitätsbasierten Erkenntnisprozess vor – ein Denken in wechselseitigen Bedingtheiten: Ognosie ist ein „narrativ orientierter, ultrasynthetischer Erkenntnisprozess, in dessen Zuge Dinge, Situationen und Phänomene einer Reflexion unterzogen und so in ein höheres Sinngefüge der wechselseitigen Bedingtheiten eingeordnet werden sollen“ (S. 31). Diese Erkenntnis zielt auf Fülle und Vielheit, in ihrem Fokus stehen Ereignisketten außerhalb der kausalen und logischen Zusammenhänge, sie präferiert Fügung, Brücke, Refrain und Synchronizität statt einer Unterteilung in separierte Einheiten. Eine Ansage. Ein Anstoß, weiterzudenken.