
Stellen wir uns eine Stadt vor, innerhalb welcher alle Orte des Alltages, wie die Arbeit, der Supermarkt und der Kindergarten nicht weiter als 15 Minuten voneinander entfernt sind und deren Bewohner:innen für diese Erledigungen auch nicht auf den Individualverkehr angewiesen sind. Das ist das Kernstück des Konzeptes der 15-Minuten-Stadt von Carlos Moreno. Wenngleich die Idee nicht gänzlich neu ist, der Forscher baut unter anderem auf den Vorstellungen der Urbanistin Jane Jacobs auf, war es das große Engagement Morenos, welches das Konzept in die praktische Umsetzung wie etwa in Paris gebracht hat. Dabei ist auch der Werdegang des Forschers aufschlussreich, liegt sein wissenschaftlicher Hintergrund doch eigentlich der Auseinandersetzung mit komplexen Systemen in der Computerwissenschaft, wo er vor allem Risikomonitoring und -management für Städte betrieben hat und als Pionier der Smart Cities gilt. Aufbauend auf dieser Auseinandersetzung gelang der Forscher bald zu dem Schluss, dass eine Smart City, die auch Nachhaltigkeit im Fokus hat, nicht nur auf technische Lösungen und Riskmanagement im Zuge der Klimakrise setzen kann. „My approach has refocused on the design of urban services that meet the needs and aspirations of citizens, putting people at the heart of the debate and integrating fundamental thinking on the geography of time, rhythms, quality of life, and chronotopia – a spacio-temporal concept in which the intersection of place and time creates unique and dynamic experiences in a given environment“ (S. 89). Wie auch der Untertitel des Buches „A Solution to saving our time & our planet“ verdeutlicht, geht es Moreno nicht nur um Nachhaltigkeitsaspekte in Bezug auf die Klimakrise, sondern auch um einen nachhaltigen Umgang mit unserer Zeit.
Genese zum Statu quo unserer Städte
Die Organisation unserer Städte ist nicht organisch gewachsen oder zufällig so entstanden, vielmehr haben sich Städte im Einklang mit Innovationen und technischen Fortschritten baulich angepasst. Dass das Aufkommen des motorisierten Individualverkehrs unsere Städte besonders beeinflusste, mag an dieser Stelle wenig überraschen. Moreno führt neben technischen Aspekten aber auch gesellschaftliche Veränderungen an. Edward Bernays, der auch als Vater moderner PR gilt, wirkte auf seine ganz eigene Art und Weise an der Veränderung der Städte mit. Er arbeitete sowohl mit der Industrie, um den Verkauf von Autos anzukurbeln, als auch mit Immobilienentwickler:innen und Interessensvertretungen, wodurch auch im Bereich der Stadtentwicklung die öffentliche Meinung geformt werden konnte. „Using persuasion and manipulation techniques, he participated in a global movement that shaped people’s attitudes toward the triptych of concrete, cars and oil“ (S. 22). Als zweite Schlüsselperson führt der Autor den Schweizer Architekten Charles-Èdourad Jeanneret-Gris – besser bekannt als Le Corbusier – an. Seine Vorstellung einer effizienten Stadt war geprägt von einem funktionalistischen Zugang, er teilte die Stadt in Zonen, die je einer konkreten Funktion dienen sollten. Dank seiner Popularität gelangten seine stadtplanerischen Vorstellungen in die Athen Charta 1933, welche als wohl bekannteste Empfehlung des Internationalen Kongress Moderner Architektur gilt. Um nun die Wegstrecken zwischen den Zonen effizient zurückzulegen, braucht es folglich auch Schnellstraßen, welche sowohl die Geschwindigkeit als auch die Luftqualität moderner Städte prägen sollten.
Der Weg zur 15-Minuten-Stadt
Wenn die funktionalistische Aufteilung unserer Städte eng an den Individualverkehr gekoppelt ist, dieser aber inzwischen aufgrund der Klimakrise aber auch anderen gesellschaftlichen Faktoren besonders in Städten nicht mehr in der alten Form gewünscht wird, dann liegt es nahe, dass sich Städte ein weiteres Mal wandeln. Darum finden sich im Buch auch einige best practice Beispiele von 15-Minuten-Städten weltweit, viele von ihnen nahmen die Erfahrungen der Pandemie als Ausgangspunkt um ihre Stadt zu transformieren. Neben dem Nachhaltigkeitsaspekt taucht dabei immer wieder ein Begriff auf: Nachbarschaft. Abseits von der Erreichbarkeit der alltäglichen Ziele geht es primär auch darum, Nachbarschaften wieder aufleben zu lassen und das Soziale zu stärken. Wie Städte diese Transformation umsetzen, ist jeweils unterschiedlich, doch beachten sie alle die Bereiche Gemeinschaft, Sicherheit, Mobilität und Partizipation. So gibt es in Paris inzwischen „Straßen für Kinder“, welche die jeweils 180 Grundschulen umgeben und zu sicheren Fußgängerzonen gemacht wurden. Auch die eingangs von Moreno kritisierte Technik spielt für 15-Minuten-Städte eine Rolle, allerdings mit dem Unterschied, dass sie nicht als Lösung zum Erhalt des Status quo sondern als Werkzeug etwa im Bereich der Sicherheit eingesetzt wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Bekenntnis zur 15-Minuten-Stadt, wenn es richtig umgesetzt wird, über Symptombehandlung hinausgeht und die gesetzten Maßnahmen an den Bedarfen der Communities ausrichtet, wie das Beispiel Paris ein weiteres Mal verdeutlicht.