Richard Sennett und Pablo Sendra zeigen in diesem Buch Möglichkeiten zur Gestaltung von Städten auf, damit sie eine lebendige, sich entwickelnde Gemeinschaft beherbergen können. Welche Basisformen braucht es dazu, was ist das Entscheidende, dass ein Ort seine Offenheit bewahrt und zu Entwicklung fähig ist? Schon in einem früheren Werk (The Uses of Disorder, 1970) beobachtete Sennett, dass Städte wie New York und London, getrieben von Kommerzialisierung, zu leblosen Orten wurden, in denen kaum Aktivitäten der Bürger:innen möglich waren und die starren und unnachgiebigen urbanen Formen nur marginal weiterentwickelt werden konnten. Er warnte vor einer Konzentration von Wohlstand, die die Vitalität einer Stadt auslöscht, Grenzen schafft und die Notwendigkeit, Dinge mit anderen Mitbürger:innenn zu teilen, hinfällig werden lässt. Damals konnte Sennett aufzeigen, wie sich New York durch nationale modernistische Entwicklungen einer Ordnung unterwarf, die das Stadtleben auslöschten. Obwohl sich der Maßstab heute verändert hat und die auferlegte Ordnung von einer globalisierten Immobilienindustrie geprägt wird, blieb es der Drang des Kapitalismus, die Stadt in ein kaufbares Produkt zu verwandeln und nicht in deren lebendige Entwicklung zu investieren.
Eine vitale und offene Stadt entsteht aber auch nicht auf natürliche Weise – das Planen von Unordnung ist notwendig, um improvisierte Aktivitäten und soziale Interaktionen zu ermöglichen. Als der spanische Architekt Pablo Sendra The Uses of Disorder las, beschloss er zu untersuchen, welche urbanen Designs diese Arten von Unordnung ermöglichen, um eine ergebnisoffene Stadt zu konfigurieren.
Die vorliegende Zusammenarbeit zwischen dem Soziologen Richard Sennett und dem Architekten Pablo Sendra greift die Ideen aus The Uses of Disorder auf und führt sie in aktuellen Überlegungen und praktischen Experimenten fort.
Offene Formen
Im ersten Teil reflektiert Sennett die Prinzipien einer offenen Stadt – die notwendige Durchlässigkeit, die Unvollständigkeit, die nicht-lineare Entwicklung –, welche Demokratie erfahrbar und möglich machen. Ähnlich zu Darwins Evolutionsgedanken definiert er ein offenes System als eines, in dem Wachstum Konflikte und Dissonanzen zulässt. Denn eine statische Umwelt hat keinen dauerhaften Bestand, Biodiversität dagegen befähigt zu überlebensnotwendiger Veränderung.
Die heutigen Städte sind sehr groß und zugleich voller Menschen unterschiedlichster Herkünfte, Hintergründe und Lebensentwürfe. Wie kann Demokratie gelebt werden, wenn persönliche Begegnung aufgrund solcher Größe kaum mehr möglich ist? Sennett plädiert für einen demokratischen Raum, der ein Forum für das Unbekannte schafft, wo Menschen interagieren und sich sozial und physisch verbunden fühlen können, auch ohne einander zu kennen.
Infrastrukturen für Unordnung
Im zweiten Teil zeigt Sendra, wie Design in der Praxis offener und kollektiver werden kann und schildert Erfahrungen mit verschiedenen Projekten. Seine „Infrastrukturen für Unordnung“ befassen sich nicht allein mit der Gestaltung technischer, sondern auch mit sozialer und kultureller Infrastruktur, die stets miteinander in Beziehung stehen. Er erprobt das Einbringen neuer Komponenten in geschlossene Systeme, um sie zu öffnen. Das können Zugänge im öffentlichen Raum sein, vom Trinkwasserzugang für Gemeinschaftsküchen oder die Verfügbarkeit von Strom für verschiedene Initiativen. Für erweiterte soziale Interaktion können auch kollektiv gemanagte Initiativen entwickelt werden, wie gemeinschaftliche Solarpaneelen oder eine Vorrichtung zum Sammeln und Nutzen von Regenwasser. So entstehen mehr Transparenz und kollektives Bewusstsein über Verfügbarkeit, Funktionsweise, Bedarf und Begrenztheit örtlicher Ressourcen. Die Gesamttransformation der Infrastruktur verfolgt die Idee eines deregulierten Raumes, in dem Bewohner:innen erst durch die Erfahrung von Verschiedenheit, durch die Begegnung unerwarteter Situationen, durch die Notwendigkeit, mit anderen zusammenarbeiten und verhandeln zu müssen, eine „adult identity“ (S. 72) bilden können.
Im abschließenden Gespräch werden die einander inspirierenden Positionen von Sendra und Sennett nochmals lebendig; es thematisiert den aktuellen Kontext, die soziale und politische Bedeutung von Architektur sowie die Probleme von Überwachung und Trennung in den Städten. Sennetts Ansatz ist ein vehementer Gegenentwurf zu der Angst vor Fremdem und zu Überwachungsmethoden. Menschen sollen sich versammeln können, egal wie schwer kontrollierbar dies sein mag. Nur wenn mehr Interaktion stattfinden kann, können Konflikte ausgestanden, Sichtweisen verändert und die Angst vor dem Unbekannten überwunden werden. Im Städteplanen kommt daher dem Experimentieren eine wichtige Rolle zu, da es zwischen bewusstem Design und einer Offenheit für Unordnung zu balancieren erlaubt.