Lukas Haffert

Stadt, Land, Frust

Ausgabe: 2023 | 1
Stadt, Land, Frust

In immer mehr Wahlanalysen verweisen Kommentator:innen auf einen eklatanten Unterschied „zwischen Stadt und Land“ beim Wahlverhalten. Der Ökonom und Politikwissenschaftler Lukas Haffert hat sich diesem Thema gewidmet und geht für Deutschland der Frage nach, was es mit dieser Entwicklung wirklich auf sich hat.

Zunächst konstatiert Haffert, was nicht mehr ist. Der Konflikt zwischen „Arbeit“ und „Kapital“ stelle nicht mehr den Kern der gesellschaftlichen Auseinandersetzung dar, sondern die Auseinandersetzung zwischen Gewinner:innen und Verlierer:innen der ökonomischer Modernisierung, wie sie in Globalisierung, technischem Wandel und der Entstehung einer Wissensökonomie zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig werde der ökonomische Konflikt zunehmend von einem kulturellen Konflikt zwischen liberalen und autoritären Vorstellungen überlagert. Der Autor weist auf eine erste Korrelation hin: Verlierer:innen des wirtschaftlichen Wandels leben oft dort, wo viele Menschen an Traditionen und Grenzen festhalten wollen. Haffert betont, dass Menschen nicht als reine Individuen in der politischen Welt navigieren, sondern sich an Gruppen orientieren. Oft begreife man sich als Angehörige:r einer ‚Schicksalsgemeinschaft‘, bevor man politisch aktiv werde. So müsse man gar nicht selbst sozialen Abstieg erleben, die lokalen Abstiegserfahrungen anderer im eigenen Milieu empören genauso. Daraus entsteht ein „Wir“, das politisch gut mobilisiert werden kann. Für Deutschland beschreibt der Autor darüber hinaus die besondere Bedeutung der Hauptstadt Berlin als Reibebaum.

Stadt-Land-Konflikte

Für Haffert ist wichtig zu betonen, dass „Stadt“ und „Land“ keine homogenen Begriffe seien, es handle sich vielmehr um ein „Kontinuum, das von den wirklich urbanen Innenstadtbezirken der größten Städte bis zu wirklich ländlichen Räumen jenseits des Einzugsgebiets auch mittelgroßer Städte reicht.“ (S. 20) Die Unterschiede zwischen den Polen „Stadt“ und „Land“ kann der Autor anhand politischer Entwicklungen in den USA und Frankreich gut beschreiben. Aber auch die politische Geographie der Bundestagswahl in Deutschland liefert Hinweise, dass das Parteiensystem in Deutschland zunehmend stark entlang dieser Achse polarisiert sei. Die Unterschiede können nur verstanden werden, wenn die modernen Städte als Zentren der Wissensökonomie und als Stützpunkt der „kreativen Klasse“ begriffen werden. Die steigende Bedeutung nicht-industrieller Wertschöpfung, kombiniert mit der kulturellen Diversität der Städte begünstige liberale Werthaltungen. Haffert erinnert an das Phänomen der wissensbasierten Agglomeration. Die Geschichte kenne eine Vielzahl lokaler Innovationszentren. Dort entstehen Ideen im Austausch mit anderen, die Innovationskraft der Stadt lockt wiederum ehrgeizige Neuankömmlinge an. Der Autor führt soziologische Erklärungen ein, darunter die Ideen von Andreas Reckwitz. Eine neue Mittelkasse in den Städten zeichne sich durch „Selbstkulturalisierung des Lebensstils“ aus. Authentizität, Selbstverwirklichung, kulturelle Offenheit und Diversität, Lebensqualität und Kreativität seien die wichtigsten Elemente. (S. 82f.)

Der Autor erfrischt abschließend mit einer Relativierung seiner überzeugenden Argumente. „Vielleicht ist die Rückkehr des Stadt-Land-Konflikts aber ohnehin kein Anlass, hektisch nach Möglichkeiten zu suchen, wie man ihn wieder zum Verschwinden bringen kann. Weitet man den Blick über die deutschen Grenzen, dann kann man ihn nämlich auch als ein weiteres Element im Prozess einer Normalisierung des deutschen politischen Systems betrachten.“ (S. 155) Das Fehlen der Stadt-Land-Gegensätze gehöre zu einer ganzen Reihe von Besonderheiten, die das politische System der Bundesrepublik in der Vergangenheit charakterisiert hätten und die seit der Wiedervereinigung langsam verschwinden. Auch die Fragmentierung des Parteiensystems und das Aufkommen einer rechtspopulistischen Partei seien Prozesse, die in anderen europäischen Staaten wesentlich früher beobachtet wurden. Auch die Bedeutung einer dominanten Hauptstadt, an der man sich reibt, sei eine Normalisierung. „Trotzdem sind diese Prozesse natürlich keineswegs unproblematisch für das politische System“ (S. 156), aber die Tatsache, dass fast alle europäischen Länder mit diesen Phänomenen konfrontiert seien, weise darauf hin, dass es umsonst sein dürfte, zu versuchen, die Phänomene wieder zum Verschwinden zu bringen. Die politische Ordnung der alten Bundesrepublik werde nicht zurückkehren. Vielmehr plädiert der Autor dafür, zu hinterfragen, wie man in einem politischen System mit teils auch radikalen Parteien, die unter anderem auf eine Polarisierung zwischen Stadt und Land abzielen, eine Paralyse des politischen Handelns verhindern könne.

Eine bleibende Herausforderung

Haffert erwartet, dass der Stadt-Land-Konflikt sich in Deutschland weiter verschärfen wird. Die Transformation der Wirtschaft von der Industrie zu einem Digitalmodell sei noch im Gange, junge Menschen erleben den Konflikt zwischen Stadt und Land intensiver als ihre Eltern. Ein Buch über eine Herausforderung, die nicht schnell verschwinden wird.