Die Erfindung des Individuums

Ausgabe: 2015 | 4

Manche Autoren sehen das Individuum und seine Freiheit durch die Moral in Gefahr, andere sehen in der Idee einer "Authentizität" des Individuums die Handlungsfreiheit im öffentlichen Raum bedroht. Larry Siedentop trägt zu der Debatte eine Geschichte des Individuums bei. Neu bei Siedentop ist die Betonung der christlichen Wurzeln der Idee des Individuums.

Wir befinden uns in einem Wettbewerb der Weltanschauungen, ob es uns gefällt oder nicht. Das steht am Beginn des Buches von Larry Siedentop über "Die Erfindung des Individuums". Keineswegs sei westliches Denken obsolet oder zweifelhaft. Was dieses westliche Denken ausmacht, dazu will Siedentop einen Beitrag leisten. Er meint, dass man zu diesem Zweck den historischen Hintergrund des Denkens freilegen müsse. "Wenn wir die Beziehung zwischen Überzeugungen und sozialen Institutionen verstehen wollen - das heißt, wenn wir uns selbst verstehen wollen -, müssen wir sehr weit zurückblicken." (S. 10) Dabei kommt er zu dem Schluss, dass das westliche Denken eine ganz bestimmte grundlegende "Richtung" aufweise: Das "Individuum" sei zur organisierenden sozialen Rolle im Westen geworden. "Es ist eine Geschichte über die langsamen, stolpernden und schwierigen Schritte, die zu einer individuellen moralischen Handlungsmacht führten." (S. 11)

Das Buch folgt der Geschichte des Individuums im westlichen Denken. Über die verschiedenen Stationen von der Antike bis heute sucht der Autor nach ideengeschichtlichen Meilensteinen. Für die Leserin und den Leser ergibt dies einen interessanten Überblick über eine lange Debatte. Siedentop geht es aber nicht darum, einfach eine Geschichte nachzuerzählen. Denn er vertritt eine Position, die vom Mainstream deutlich abweicht. Er hält Antike und Renaissance für die Entstehung des westlichen Denkens für überschätzt, das Christentum für unterschätzt.

Die dominierende Auffassung zu der Frage ist, dass das Individuum während der italienischen Renaissance seine Auferstehung und Blüte erlebte. Nach Versuchen, antikes und christliches Denken zu verbinden, gingen italienische Humanisten gegen Ende des 15. Jahrhunderts zur Verachtung der Kirche über. Die Erfahrungen der Religionskriege, in denen versucht wurde, die Einheitlichkeit des Glaubens zu erzwingen, führten zu weiterer Skepsis und zu einer Literatur der Absicherung des Individuums gegen Kirche und Staat. In dieser dominanten Erzählung wurde "jeder Hinweis, dass sich die Ursprünge auf das Christentum zurückführen ließen, (...) als absurd abgetan." (S. 416)

Genau hier hakt Siedentop ein: Der auf dem Individuum aufbauende Liberalismus des Westens sei ein Kind des Christentums, wenn auch ein uneheliches, kein Wunschkind. Vom 12. bis zum 15. Jahrhundert hätten Kirchenjuristen, Theologen und Philosophen eine Erzählung des "individuellen Gewissens" zusammengestellt. Erzwungener Glaube wurde als Widerspruch in sich gesehen. Dem Gewissen und den Absichten des Individuums kam die entscheidende Bedeutung zu. Der Glauben an die Gleichheit der Seelen war dabei die Grundlage für das Streben nach individueller Freiheit.

Besonders ab 1300 sei eine Verdichtung dieses Denkens zu beobachten. Die Hinwendung zu einer neuen Innerlichkeit, geführt zu werden von einem "inneren Licht", seien hier frühe Hinweise. Auch die Pietisten, die eine persönliche Beziehung des Einzelnen zu Gott suchten, stellten so das Individuum in den Mittelpunkt. Diese Hinwendung zur Innerlichkeit führte zur Auseinandersetzung mit dem Willen. Der Willen des Einzelnen eröffnet Möglichkeiten. Dieser Zusammenhang wurde später nicht mehr nur auf die Frage des Zugangs zu Gott bezogen, zunehmend auch auf den Zugang zu anderen sozialen Institutionen in der Welt. Einzelne Menschen können mit Hilfe ihres Willens ihre soziale Stellung in der Gesellschaft verändern, diese sei nicht mehr schicksalhaft und unausweichlich gegeben.

Bis zum 15. Jahrhundert hätten sich in der Kirche protoliberale Vorstellungen entwickelt wie der Glaube an moralische Gleichheit und eine Reihe von natürlichen Rechten, an eine repräsentative Regierungsform und an die Bedeutung freier Forschung. Schließlich seien diese zu einer geschlossenen Theorie zusammengefasst worden, interessanterweise um gegen den Anspruch der christlichen Kirche zu wirken, die Glauben mit Hilfe weltlicher Macht erzwingen wollte.


Siedentop, Larry: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt. Stuttgart: Klett-Cotta, 2015. 495 S., € 29,95 [D], 30,80 [A]

ISBN 978-3-608-94886-8