Zukunftsforschung in Krisenzeiten

Ausgabe: 1991 | 3
Zukunftsforschung in Krisenzeiten

Editorial 3/1991

Der Golfkrieg und die abermals verschärfte Krise der Sowjetunion haben die Frage aufgeworfen, ob es angesichts so „überraschender Entwicklungen“ überhaupt sinnvoll sei, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Als Hauptargument gegen vorausschauende Bemühungen wird ins Feld geführt, dass keines dieser beiden welterschütternden Ereignisse exakt prognostiziert worden sei. Aber dieser Einwand beruht auf einer irrigen Erwartung. Es ist nicht möglich und wird wohl immer unmöglich sein, über politische und wirtschaftliche Ereignisse genaue Voraussagen zu machen, weil der wichtige und sogar entscheidende „Faktor Mensch“ nicht – glücklicherweise nicht! – genau bestimmbar ist. Dennoch ist es notwendig, ja sogar unerlässlich, sich besonders in schwierigen Zeiten mit allen denkbaren Entwicklungen zu beschäftigen, bevor sie sich gefährlich zuspitzen. Solch präventives Krisenstudium kann dann, wenn es darauf ankommt, vielleicht mit hilfreichen Problemlösungen aufwarten. So war es durchaus sinnvoll, dass das „Forum for the Future“ der „Organisation for Economic Cooperation and Development“ (OECD) sich am 19. und 20. Juni in Paris – fast genau einen Monat vor dem Putsch in der UdSSR – bereits mit eminenten Experten aus Europa, Asien und Amerika die Köpfe über die Situation in diesem Land zerbrach. (1) Man fand zwar keine Patentrezepte, beschloss aber wenigstens den Folgen, die sich aus dieser Lage ergeben müssten – zum Beispiel dem zu erwartenden Druck verstärkter Massenauswanderung – helfende Aufmerksamkeit zu schenken. Mindestens fünf Jahre werde es vermutlich dauern, ehe die wirtschaftliche Not im Osten zurückgehen und durch ein mäßiges unstetes Wachstum abgelöst werden könne. Dabei müssten allerdings auch die politischen, sozialen, ethnischen und ökologischen Probleme stärker berücksichtigt werden als bisher.

Nun – das sind zwar keine besonders originellen Erkenntnisse, aber dass sie von Einflussreichen Amtsträgern und Experten gemeinsam überlegt wurden, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese Einflussreichen in naher Zukunft bessere Entscheidungen treffen. Wie notwendig es ist, die Ereignisse nicht mehr nur auf sich zukommen zu lassen, sondern ihnen rechtzeitig zu begegnen und über vernünftige Maßnahmen nachzudenken, zeigte sich bei diesem Treffen besonders deutlich, als die Entwicklungen in Afrika zur Debatte standen. Wenn da nicht rechtzeitig etwas unternommen wird, verschiebt sich, wie man bei der Pariser Tagung konstatieren musste, der Schwerpunkt der Verarmung in diese unterentwickelte Region des Globus. Ein ganzer Kontinent dürfte dann um die Jahrhundertwende zum größten Armenhaus der Welt verkommen. Es wird nämlich geschätzt, dass dann bereits 265 Millionen Afrikaner unter dem lebensnotwendigen Minimum vegetieren müssen. Da muss gewaltsames Aufbegehren fast mit Sicherheit erwartet werden, und es ist daher dringlich, dass nicht alle Aufmerksamkeit und Hilfe ausschließlich dem notleidenden Osten Europas gewidmet wird. Zukunftsforschung als Instrument der Krisenbewältigung wird sich in den kommenden Jahren immer mehr auch mit Fragen zu beschäftigen haben, die bisher vor allem der Friedensforschung vorbehalten waren. Dabei werden die Erschütterungen des Friedens im Inneren der Staaten ein erhöhtes Interesse für sich beanspruchen. Denn mit dem vorläufigen Sieg der tüchtigen industriellen Großkonzerne über die ineffizienten und unpopulären Großsysteme des „realen Sozialismus“ ist weder der Verteilungsanspruch noch das Beteiligungsverlangen der fast machtlosen Mehrheiten beseitigt worden. Ebenso wenig wie berechtigte ethischen Selbstbestimmungsansprüche durch schwerbewaffnetes Militär.

Krisenbewältigung geht nicht ohne breiteste Mitbestimmung. So ist es besonders zeitgerecht, dass die internationale Föderation der Zukunftsforscher in diesem Herbst in Barcelona über die Möglichkeiten verstärkter Partizipation von Betroffenen und Beschäftigten diskutieren will. Denn nicht „von oben“ allein können die kommenden Krisen schöpferisch und demokratisch in Anstöße zu notwendigen Neuerungen verwandelt werden. Wie kann das vor sich gehen? In einem soeben erschienenen umfangreichen Werk, das ich dieser Tage in die Hand bekam, werden über 22000 aktive internationale Vereinigungen in aller Welt aufgeführt. (2) Sie könnten Foren werden, in denen auf allen Ebenen und in allen Gebieten menschlicher Aktivität über bessere Zukünfte gesprochen wird. Das wäre eine großartige Möglichkeit von beginnender Krisenüberwindung durch zukunftserrichtete ideenreiche und solidarische Zusammenarbeit.