Das „Welthirn“ entsteht

Ausgabe: 1990 | 4
Das „Welthirn“ entsteht

Editorial 4/1990

Am 18. und 19. November dieses Jahres fand in Turku, der alten Hauptstadt Finnlands, eine internationale Besprechung statt, deren Folgen für die Zukunft der Weltkultur von beträchtlicher Bedeutung sein könnten. Pierre Weiss, ein hoher Funktionär der UNESCO, der sich seit langem bemüht, seine Organisation auf erweiterte Horizonte hin zu orientieren, hatte einen interessanten Vorschlag zu unterbreiten, der in mancher Hinsicht jenes „World Brain“ schaffen soll, von dem H. G. Wells und andere Visionäre seit langem träumen. Es ist daran gedacht, bei der UNESCO in Paris ein internationales „Clearing-house“ für alle erreichbaren zukunftsrelevanten Studien auf dem Gebiet der Erziehung, der Wissenschaften und der schöpferischen kulturellen Aktivitäten einzurichten. Für eine solche weltumfassende Sammelstelle wird zunächst eine offene, jedermann zugängliche Datenbank geschaffen sowie ein bibliographisches Bulletin vorbereitet, das zunächst nur einmal, später aber bis zu dreimal jährlich erscheinen soll. Sollten die zahlreichen in allen fünf Erdteilen existierenden Mitgliedstaaten der UNESCO diesem Projekt zustimmen – woran kaum ein Zweifel zu bestehen scheint – so würde damit ein entscheidender Schritt nach vorne in eine neue Zivilisation gewagt, die der Erhellung und Vorbereitung dessen, was der Menschheit jeweils bevorsteht, mehr Aufmerksamkeit denn je widmet. Einen ähnlichen historischen Schritt hatte bereits einige Monate früher die vorwiegend wirtschaftlich interessierte OECD unternommen. Aber das von Wolfgang Michalski ins Leben gerufene Programm mit seinen drei Komponenten „Future Studies Information Base“, „International Futures Network“ und „Forum for the Future“ konzentriert sich vor allem auf die fortgeschrittenen Industrienationen und ist, wie Kritiker zu beobachten meinen, zumindest vorläufig noch ein Instrument der westlichen Technokratie. Umso wichtiger, dass die auch in Asien, Afrika und Lateinamerika verankerte UNESCO nun den Rahmen der systematischen Zukunftsinformationen geographisch wie thematisch erweitert. So kann eine Überbetonung ökonomischer Interessen, Perspektiven und Zielsetzungen verhindert werden. Bedeutsam ist es auch, dass an diesem kulturellen Weltprojekt, wie ausdrücklich betont wurde, die nichtstaatlichen Organisationen gleichberechtigt mitarbeiten sollen. So wurden bereits die vor allem in den USA arbeitende „World Future Society“, die in Frankreich residierende „Association International Futuribles“, der „Club of Rome“, die „World Futures Studies Federation“ mit ihren über 80 Mitgliedsländern und nicht zuletzt auch unsere „Internationale Bibliothek für Zukunftsfragen“ (Salzburg) als erste Zulieferer und Mithelfer eingeladen. In den kommenden Jahren werden wichtige Beiträge vor allem auch aus Osteuropa erwartet. Damit wird nun schon zum dritten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs der Versuch unternommen, künftige Entwicklungen international zu beobachten und auf diese Weise vorausschauendes verantwortliches Handeln durch mehr und zusammenhängenderes Wissen zu ermöglichen. Wenn der Unterzeichnende dieses Unternehmen nicht nur mit Hoffnung, sondern auch mit Skepsis begleitet, so sind daran vorhergehende enttäuschende Erfahrungen schuld. Sowohl das „Observatorium für langfristige Entwicklungen“, das ich seinerzeit im Auftrage des Europarats (Straßburg) entwarf, wie das anspruchsvolle Programm „Europa 2000“, das mein Freund Lord Kennet etwas später der EWG in Brüssel lieferte, scheiterten an internen Rivalitäten. Etwas besser ist es dem FAST-Programm (Forecasting and Assessment for Science and Technology) des großartigen Riccardo Petrella ergangen, das die Brüsseler „Eurokraten“ zwar noch am Leben erhalten, aber längst nicht mehr so ernst nehmen, wie es das verdiente. Werden die Politiker und Kulturpolitiker, die den Begriff „Zukunft“ mehr als jedes andere in ihren Reden und Programmen strapazieren, nun wirklich beginnen, über das jeweils laufende Jahr oder ihre jeweilige Amtsperiode hinauszuschauen? Ist es denkbar, dass langfristige Perspektiven und ermutigende Visionen trotz der Enttäuschungen der letzten Zeit jetzt endlich den notwendigen Stellenwert erhalten?