Was tun, wenn Patient Erde fiebert?

Ausgabe: 2015 | 4

Editorial

Der Schauplatz ist Symbol: Paris, die Metropole, die sich das Prinzip von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat, und gerade deshalb vorrangig ins Fadenkreuz des fanatisierten Widerstands gegen das weltumspannend gedachte Prinzip der Solidarität geraten ist, ist Treffpunkt der Weltgemeinschaft. Auf der Agenda der UN-Klimakonferenz, bei der bis 10. Dezember die Weichen für eine tragfähige Entwicklung gestellt werden sollen, steht nicht weniger als die Zukunft der Zivilisation.

In einer Atmosphäre allgemeiner Verunsicherung tritt ein Kollegium von 195 Staaten(lenkern) auf den Plan, um begleitet von mehreren tausend Experten darüber zu beraten, wie dem fiebernden Patienten Erde zielsicher und nachhaltig auf die Beine zu helfen ist. In Anbetracht eines drohenden multiplen Organversagens ist guter Rat freilich teuer.

Zwar haben 20 Staaten ihre Bereitschaft bekundet, die Ausgaben zur Erforschung und Umsetzung nachhaltiger Technologien bis zum Jahr 2020 zu verdoppeln; 100 Milliarden $ sollen zudem ab 2020 zur Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungsländern aufgebracht werden, doch weiß heute niemand, wie die in Aussicht gestellten Mittel aufzubringen und die ambitionierten Zielvorgaben umzusetzen sind. Und selbst wenn - was in Anbetracht der vorangegangenen Erfahrungen wenig wahrscheinlich ist - alle im Vorfeld genannten Vorhaben umgesetzt werden, wäre global gemittelt bis zum Jahr 2100 noch mit einem Temperaturanstieg von 2,7 Grad C zu rechnen: zu viel, um die Physis des Patienten auch nur zu stabilisieren.

image025"Selbstverbrennung" hat Hans Joachim Schellnhuber, der renommierteste Klimaforscher Deutschlands, seine soeben erschienene Darstellung der "fatalen Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff" betitelt.1) Auf beinahe 800 Seiten (!) liegt damit eine in jeder Hinsicht "Große Erzählung" zu der (von natürlichen Schwankungen abgesehen) über Jahrtausende lang ausgeglichene Bilanz einer Beziehung vor, in der sich die menschliche Zivilisation entwickeln konnte, die aber, zuletzt befeuert von einer "verantwortungslosen Bereicherungsideologie", die Zukunft des Menschen auf diesem Planeten zu verspielen droht. In welchem Ausmaß Gier, Dummheit oder Versehen diese Entwicklung vorantreiben, ist schwer zu sagen. Ob gar das Projekt der Aufklärung zu einer kollektiven mentalen Störung geführt hat, die in Richtung Selbstzerstörung weist, muss hier offen bleiben.

Mit dem Autor dieses grandiosen Buchs gilt es "Partei zu ergreifen gegen eine gesellschaftliche Betriebsweise, welche die natürlichen Lebensgrundlagen unweigerlich zerstören wird" (S. 6). Dass, so Schellnhuber, die "beispielslose Zivilisationskrise nur durch die Verbindung von Glauben und Vernunft bewältigt werden kann" (S. 5f.), sollte zu denken geben.

image032Vergleichsweise leichtgewichtig und doch auch zukunftsweisend nimmt sich der Sammelband "Zukunft gewinnen!" aus,2) der im Wesentlichen auf ein Berliner Symposion aus Anlass des 100. Geburtstages von Robert Jungk 2013 zurückgeht und Erinnerungen an den nach Selbsteinschätzung unermüdlichen "Agitator fürs für das Überleben" versammelt. Rolf Kreibich und Fritz Lietsch haben mit diesem Band  einen Impuls dafür geleistet, dass das so vielfältige Engagement Robert Jungks für eine lebenswerte, solidarische Zukunft präsent bleibt und fortgesetzt wird. Fachbeiträge zu Perspektiven der Umsteuerung in Richtung einer tragfähigen Zukunft (etwa von Peter Spiegel zur Förderung kollektiver Intelligenz oder von Ernst Ulrich von Weizsäcker zu den Potenzialen ressourceneffizienten Wirtschaftens) verweisen auf die anhaltende Bedeutung von Robert Jungk als Initiator und Repräsentant eines sozial und ökologisch motivierten Zukunftsengagements.

Die Kapitel dieser Ausgabe sind drängenden Fragen unserer Zeit gewidmet. Diskutiert werden Herausforderungen und Lösungsperspektiven in Anbetracht einer zunehmend diffusen Weltentwicklung (präsentiert von Hans Holzinger). Alfred Auer hat sich, unterstützt von fachkundiger Assistenz (Shila Auer, Gunter Sperka), aktuelle Beiträge zur Klimadebatte angesehen, und Stefan Wally erörtert, welche Rolle in  ereignisreichen Zeiten nicht nur "westlichen Werten", sondern darüber hinaus auch noch Gott und Teufel einzuräumen sind. Wahrlich keine leichte Kost, aber doch eine lohnenswerte Lektüre.

Wie immer wünschen wir eine erkenntnisreiche und stimulierende Lektüre auf dem Weg in eine letztlich doch wohltemperierte Zukunft,

 

Ihr

w.spielmann@salzburg.at

(auch im Namen des JBZ-Teams)

 

Bei Amazon kaufenSchellnhuber, Hans Joachim: Selbsverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff. München: Bertelsmann, 2015. 777 S., ISBN 978-3-57010262-6

Bei Amazon kaufenKreibich, Rolf und Lietsch Fritz (Hrsg.): Zukunft gewinnen.Die sanfte (R)evolution für das 21. Jahrhundert - inspiriert vom Visionär Robert Jungk. München: Altop Verlag, 256 S., ISBN 978-3925646652