
Sind Flüsse Lebewesen? Mit dieser Frage setzt sich Robert Macfarlane auf theoretischer wie auch praktischer Ebene auseinander, verbindet dabei den Anspruch von Informationsvermittlung mit prosaischen Beschreibungen von Natur. Diese Herangehensweise überrascht jedoch nicht weiter, da man Macfarlane durchaus als einen der aktuell bekanntesten Naturschriftsteller bezeichnen kann. Die titelgebende Frage, ob Flüsse Lebewesen seien, zielt auf den rechtlichen Schutzstatus von Gewässern ab. Wenn sie vor dem Recht als Lebewesen sowie als juristische Person anerkannt würden, was würde das für ihren Schutz bedeuten? Im Laufe seiner Ausführungen versucht der Autor nicht nur die rechtliche Frage zu klären, vielmehr wird auch auf die individuelle Ebene verwiesen, nämlich: Was macht es mit uns Menschen, wenn wir uns nicht mehr über die Natur erhöhen, sondern uns auf eine Ebene mit unserer Umwelt begeben? Auf der Suche nach einer Antwort reist der Autor in den ecuadorianischen Nebelwald, den Los Cedros, nach Chennai in Südostindien und nach Nitassinan in Kanada. „An allen drei Orten wurde der ‚Naturvertrag‘, wie der Philosoph Michel Serres ihn nennt, auf revolutionäre Weise neu gedacht“ (S. 27). Doch auf seinen Reisen erlebt der Autor nicht nur die erfolgreichen Seiten im Kampf für die Rechte der Natur kennen, auch sterbende Flüsse sind Teil seiner Ausführungen. „Wenn es Ihnen schwerfällt, einen Fluss als Lebewesen zu betrachten, können Sie sich auch einen toten oder sterbenden Fluss vorstellen. Das macht es vielleicht einfacher“ (S. 30).
Kann ein Fluss als juristische Person gelten?
Kann ein Fluss als juristische Person gelten? Die kurze Antwort lautet Ja. Die Langfassung nimmt ihren Ursprung 1971 in einer Vorlesung zum Thema Sachenrecht an der University Southern Carlifornia, LA. Der Wissenschaftler Christopher Stone fragt seine Studierenden, wie „ein neues juristisches Weltverständnis aussehen [würde], bei dem […] auch die Natur Rechte hätte“ (S. 39). Aus dieser spontan gestellten Frage zur Erhöhung der Aufmerksamkeit seiner Studierenden wurde schnell eine Idee und in weiterer Folge Publikation mit dem Titel „Haben Bäume Rechte“. Es benötigte jedoch über 40 Jahre, in denen Stones ob seiner Idee mit Spott und Hohn seiner Kolleg:innen konfrontiert war, bis sie von Jacinta Ruru, Rechtsgelehrte der Māori, aufgegriffen wurde, um Flüssen in Neuseeland zu Rechten zu verhelfen. Und tatsächlich folgte 2017 die Rechtsprechung in Form des Te Awa Tupua Acts, welcher besagt, dass der Fluss Whanganui nicht nur ein „lebendiges Wesen und ein Urahn der Gemeinschaft der Whanganui Iwi ist“ (S. 41), sondern auch als „juristische Person“ (S. 41) definiert wird. Das ist jedoch kein Einzelfall, im Laufe der Jahre haben weltweit, von England bis Ecuador, immer wieder Gerichte für den Schutz von Flüssen entschieden. Sehr oft standen hinter den Urteilen Graswurzelbewegungen und der Einsatz von lokalen und insbesondere indigenen Gruppen.
Zum Verhältnis Mensch-Natur
Die gesellschaftspolitische Frage, ob man Flüsse als Lebewesen und damit als juristische Personen definieren kann und welche Philosophie dahintersteht, wird im Grunde auf den ersten 50 Seiten abgehandelt. Die verbleibenden gut 300 Seiten gehen auf konkrete Beispiele in Ecuador, Indien und Kanada ein, behandeln darüber hinausgehend die Zerrissenheit des Autors selbst, die titelgebende Frage vorbehaltslos mit Ja zu beantworten. „Die Suche nach Antworten auf diese Frage war für mich ebenso verstörend wie erhellend“ (S. 45). Doch für Macfarlane ist es für westlich geprägte Gesellschaften bereits ein bedeutsamer Schritt, die Frage überhaupt zu stellen und sich mit einer anderen Sicht auf Natur zu konfrontieren.
Gerade Menschen der indigenen Bevölkerung kämpfen für Rechte von Flüssen kämpfen. Darüber hinaus sind neben Aktivist:innen allen voran die Gerichte der Dreh- und Angelpunkt, wenn es um den Schutz der Flüsse geht. Besonders deutlich wird dieser Umstand im Los Cedros in Ecuador, wo 2008 in einer bahnbrechenden Reform des Verfassungstextes Rechte der Natur aufgenommen wurden: „‚Die Natur, oder Pachamama, in der das Leben entsteht und besteht‘, heißt es im ersten Artikel, ‚hat das Recht auf vollständige Anerkennung ihrer Existenz und auf die Pflege und Wiederherstellung ihrer Lebenszyklen, Struktur, Funktionen und evolutionären Prozesse.‘ […] Das ‚Leben‘ der Natur stand fortan unter dem Schutz des Staates“ (S. 56 f.). Trotz dieses Erfolges wurde 2017 neben vielen anderen auch eine Abbaukonzession für den Los Cedros an ein kanadisches Bergbauunternehmen verkauft. Die Verfassung stand auf der einen Seite, die wirtschaftliche Rezession Ecuadors auf der anderen. Und doch reiste Macfarlane 2022 in einen völlig intakten Nebelwald, was dank eines Urteils des Verfassungsgerichts, welches sich auf die neuen Verfassungsartikel bezog, möglich war. Der Autor schien selbst vom „unverblümt animistischen Bericht“ des Richters und seines Beisitzenden zur Urteilsbegründung überrascht zu sein: „Die starke Stimme des Lebens habe sogar noch größeren Einfluss darauf gehabt als der ‚rechtliche Rahmen‘. Er (Richter Agustín Grijalva Jiménez) und die anderen Richter hätten vom Los Cedros einen ‚Lebensruf‘ erhalten, der ‚das hohe Gericht zum Umdenken‘ brachte“ (S. 81).
Neue Perspektiven
Leser:innen, die ein typisches Sachbuch mit diversen Quellenangaben und harten Fakten erwarten, werden von „Sind Flüsse Lebewesen“ enttäuscht sein, denn die im Genre Nature Writing angesiedelte Publikation besticht stattdessen durch einen persönlichen Blick auf das Leben in und mit der Natur. Durch diese breite Herangehensweise erfahren Lesende viel über Flüsse und Gewässer, auch über Pilze im Los Cedros, Insekten in Indien und die Kunst, mit einem Kajak in den wilden Gewässern Kanadas zu bestehen. Etappenweise sind die Geschichten der skizzierten Menschen überwältigend, manchmal auch schwer zu fassen. Doch wer sich darauf einlässt und neugierig an der Reise des Autors teilnimmt, wird neue, bereichernde Sichtweisen dazugewinnen.






