Editorial 1/1990
„Darauf waren wir nicht vorbereitet.“ Diese Äußerung hört man jetzt immer wieder. In der Tat: die großen Veränderungen im Osten Europas haben Ratlosigkeit oder Hast ausgelöst. In aller Eile, oft ohne genügende Unterlagen und ohne Übung im Vorausplanen wird auf die neuen politischen und wirtschaftlichen Situationen reagiert. Sollte man aus diesen Verlegenheiten nicht lernen? Ist es nicht notwendig, sich auf möglichst viele, auch – ja sogar besonders! – überraschende Zukunftsmöglichkeiten vorzubereiten? Wir haben bisher fast alle nach der alten Devise „Warten und Sehen“ gehandelt, weil das als realistisch galt. Aber zur Wirklichkeit gehört in einem Zeitalter des ständigen schnellen Wandels stets auch das, was erst als Herausforderung oder Möglichkeit vorhanden ist. Nur Vorausinformierte, Vorausdenkende und Vorausentwerfende sind in dieser Epoche Realisten.
Es wurden nur sehr wenige konkrete Vorstellungen für ein wiedervereinigtes Deutschland entwickelt. Vor allem wurden die „Folgen der Folgen“ so gut wie gar nicht bedacht, obwohl ähnliche Probleme, die sich z. B. aus dem Zusammenbruch von Staat und Volkswirtschaft ergeben müssen, bereits nach 1945 erfahren worden waren.
Zurzeit erkennen wir viele kritische Entwicklungen, die vielleicht schneller gefährlich werden können, als man heute annimmt. Aber wo werden vielfältige Modelle möglicher Zukünfte ausgearbeitet und ständig auf den neuesten Stand gebracht, die ein konstruktives Eingehen auf diese Bedrohungen vorbereiten? Da sind ganz zuerst die Fragen der zunehmenden Verknappung des Trinkwassers und die unaufhörlich steigende Müll-Lawine von größter Dringlichkeit. Der verständliche und auch in mancher Hinsicht berechtigte Drang der befreiten Ostländer nach mehr Konsum verschärft die Lage in einer bisher noch kaum ganz ausgeloteten Tiefendimension.
Könnte, sollte, müsste für die daraus erwachsenden Aufgaben nicht in erster Linie die sogenannte „Abrüstungs-Dividende“ verwendet werden, statt diese längst überfälligen Einsparungen in den Rüstungshaushalten nun zum Budgetausgleich zu verwenden? Wenn die Milliarden, die durch den Abbau der Waffensysteme freiwerden, in die alten Schläuche geleitet werden, so liegt es auch daran, dass andere menschen- und naturfreundlichere Projekte kaum ausgearbeitet worden sind.
Es lohnt sich, die Zukunft geistig vorzubereiten, ohne sich deswegen zu früh und zu bindend festzulegen. Denn das war der entscheidende Fehler in den starren menschenfernen Plänen der Bürokraten im Ostblock. Ihr falscher Umgang mit der Fülle kommender Möglichkeiten darf nun nicht dazu führen, jede Zukunftsvorbereitung als nutzlos abzutun. Wir dürfen nicht mit leeren Händen dastehen, wenn wir bei der nächsten Krise gefragt werden: Habt Ihr Euch rechtzeitig überlegt, was wir tun sollten? Wer unvorbereitet ist – den straft das Leben. Erfreulich ist, dass auf der kommenden „Worlddidac Expo 1990“ in Basel dem Thema „Lernen durch Visionen“ ein hervorragen" der Platz eingeräumt wird. Beginnt in den Schulen endlich die Zukunft?