Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1996

Ausgabe: 1996 | 3

 

Den, wie er sagt, "von scheuer Liebe zum Leben durchdrungenen, unsterblichen ,Dialog eines Kalenderverkäufers mit einem Passanten" - er stammt von seinem italienischen Landsmann Lepardi - zum Ausgangspunkt nehmend, macht Claudio Magris auf den "leichtfertigen Pessimismus der vielen phrasendreschenden Apokalyptiker" aufmerksam, "die offenbar mit Genugtuung ständig Katastrophen ankündigen oder verkünden, das Leben sei nichts als Leere, Schuld und Schrecken". Ganz anders geht Magris, der vielgeachtete Interpret des „habsburgischen Mythos“ und sensible Erzähler zu Werke, wenn er uns, am "bevorstehenden schicksalsträchtigen Anbruch des zweiten Jahrtausends stehend", daran erinnert, daß „zwar kein Endzeitpathos, wohl aber die tiefe Überzeugung zu spüren (sei), daß die Kultur und der Mensch selbst in einem radikalen Wandel sind, also die Überzeugung vom unleugbaren Ende nicht der Welt, sondern der jahrhundertealten Art und Weise, die Welt zu erleben, zu erfassen und zu verwalten". Es werde, so Magris weiter, der sich in diesem Zusammenhang auf Nietzsche und Dostojewskij beruft, viel davon abhängen, ob unsere Kultur "den Nihilismus bekämpfen oder bis zur letzten Konsequenz führen wird". Gegenwärtig "voll Zuversicht an den Fortschritt zu glauben, (...) sei nur mehr lächerlich, aber ebenso stumpfsinnig sind die nostalgische Verklärung der Vergangenheit und die großsprecherische Katastrophenrhetorik" . Magris diagnostiziert die Gefahr eines "sanften Totalitarismus", in dem "das Volk zu wollen glaubt, was seine Lenker jeweils für opportun halten", und sieht eine Möglichkeit des Widerstandes" in der Verteidigung des von der Ausschaltung bedrohten historischen Gedächtnisses". Gegen "die falschen Realisten, von denen es unter den Politikern so viele gibt", verwehrt sich Magris gegen die These vom Ende der Geschichte. Er setzt beharrlich und überzeugend - auch auf die Ideen der Demokratie und des Fortschritts sowie auf die Utopie der Gerechtigkeit in der Zivilgesellschaft, die es nach dem Ende des Kommunismus weiter zu verfolgen gelte: "Die Welt kann nicht ein für allemal erlöst werden, jede Generation muß, wie Sisyphos, ihren Felsblock   wälzen, um zu vermeiden, daß er sie überrollt und zermalmt." Hier kommt die Utopie zu Hilfe, denn "sie gibt dem Leben Sinn, weil sie ganz gegen jede Wahrscheinlichkeit fordert, daß das Leben einen Sinn habe". Die Entzauberung dagegen bedeutet zu wissen, daß wir die erhofften Ziele nur mit Geduld und Bescheidenheit, vielleicht auch niemals, erreichen, da "unsere Augen den Messias nicht sehen werden und die Götter im Exil sind". "Die Entzauberung, die die Utopie berichtigt", sagt Magris, "verstärkt deren grundlegendes Element. die Hoffnung." Diesen Widerspruch, im Grunde zwei Seiten einer Medaille, darzustellen und "ausweichend in einer höheren musikalischen Einheit zusammenzufassen, ohne sie vorher aufzulösen", sei allein der Poesie vorbehalten. Entsprechend schmückt eine Lyra den Einband dieser ebenso schlichten wie tiefen Rede. Vielleicht kein unsterblicher, aber allemal ein bedeutender, nachdenkenswerter Text. W. Sp.

Magris, Claudio: Utopie und Entzauberung. Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1996. Salzburg: Residenz-Verl., 1996