Paul Virilio über Geschwindigkeits- und Mobilitätswahn

Ausgabe: 1995 | 3

Paul Virilio ist längst kein Unbekannter mehr. Seine Leitthese, wonach die Menschheitsgeschichte ein Produkt des Diktates der Geschwindigkeit sei, hat den Pariser Architekten und Philosophen zu einer Instanz postmodernen Denkens werden lassen. Wie schon fahren, fahren, fahren (1878) und Geschwindigkeit und Politik (1980) präsentiert Der negative Horizont das hypothetische Grundgerüst der Virilioschen Argumentation: Geschwindigkeit ist zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte eine Konstante sozialer Macht.

Der Autor führt am Beispiel der urzeitlichen Jagd, der Kriegsführung zu allen erdenklichen historischen Epochen und der infrastrukturellen Erschließung durch materielle (z. B. Eisenbahnen, Straßen, Kanäle) bzw. immaterielle (Telegraphen, Rundfunk) Kommunikationsnetze die Bedeutung effektiver zeitlicher Organisation und prozessualer Schnelligkeit vor Augen. Entgegenzuhalten wäre Virilio, daß auch Langsamkeit, die sogenannte lange Dauer (Iongue duree) von Strukturen und Modellen eine anerkannte Begrifflichkeit im historischen Diskurs bildet: Der Schnelligkeit politischer Veränderung, die im Virilioschen Sinn den Systemen der Geschwindigkeit unterliegt - z. B. durch Waffentechnologie oder technisierte kommunikative Vernetzung -, steht das Beharrungsvermögen gesellschaftlicher Strukturen und Leitbilder entgegen.

Angesichts des Geschwindigkeitsparadigmas verheißt die Botschaft Virilios nicht Gutes: Das Diktat der Geschwindigkeit treibt, um der geforderten Mobilität gerecht zu werden, den Preis für die Zeit stetig in die Höhe, während der Preis für die Überwindung des Raumes dank (betriebswirtschaftlich, nicht ökologisch und sozial) kostengünstig operierender Transportsysteme und weltweiter Datennetzwerke entsprechend abnimmt. Fazit: Geschwindigkeits- und Mobilitätswahn - koste es, was es wolle.

Der Text bietet trotz einer fallweise bizarren Argumentationslogik und hermetisch-postmoderner Diktion ein weites Perspektivenraster für zukünftige Mobilitätsplanungen. Sozialwissenschaftlich Interessierte finden in jedem Fall eine Menge Denkanstöße.

P St.

Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Frankfurt/M.: Fischer, 1995,291 5., OMIsFr 18,80 I ÖS 147,-