Marc Stears war Professor für Politische Theorie an der Universität Oxford, seit 2018 ist er Direktor des Sydney Policy Lab an der dortigen Universität. Er sucht einen neuen Ansatz für die Politik. Er wird bei kleinen Momenten des Stillstands im Alltag fündig. Ein einfacher Stopp im täglichen Leben, so etwas gibt es an einer roten Ampel, auf einer Parkbank, zurückgelehnt im Bürosessel, nach dem Hinsetzen in einem Gasthaus, beim Blick auf die Enkel, bei der Autofahrt zum See. In diesen Momenten denkt man oft die großen Gedanken, sieht die Zusammenhänge, ist bei sich.
Diese Momente des Stillstands stehen in einem klarem Kontrast zur Geschwindigkeit der politischen Auseinandersetzungen, in denen es nicht selten darum geht, sich voneinander abzugrenzen. Und trotzdem zieht Stears aus diesen Augenblicken der Ruhe, diesen Reflexionen im Alltag Schlussfolgerungen für die Politik. Es seien diese alltäglichen Momente, die eine Gemeinschaft teilt, die Erinnerungen daran, die Menschen verbindet. Für Stears sind sie der Ausgangspunkt für die Verbundenheit von Menschen in einer Region oder Nation. Die Politik solle sich daran orientieren, das Alltägliche in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen, das politische Verhalten sollte sich an Standards der Gemeinschaft orientieren, Politik sollte das Aggressive, Polarisierende meiden, in der Sprache das Großartige und Abstrakte vermeiden. Abstrakte Sprache werde immer verwendet, um politische Realitäten zu verdecken. Und sie verhindert, dass plausible Alternativen entwickelt würden. Stears zitiert hier umfangreich George Orwell. (S. 118f.)
Aus der britischen Perspektive
Stears argumentiert aus der britischen Perspektive heraus. Er liest dazu britische Literatur des 20. Jahrhunderts, schaut Filme dieser Zeit. Das Verbindende der Alltagserfahrungen sei der Schlüssel für die Resilienz der Briten im Zweiten Weltkrieg gewesen. Geschichten, wie etwa die Nachbarin trotz der Gefahren ihren Lebensstil nicht ändern wollte, erfahren Kinder von ihren Eltern, ihr Verhalten wird gemeinsamer Bezugspunkt. Es sei eben nicht der Militarismus gewesen, der die Nation verband, auch nicht der (hier wird J. B. Priestley zitiert) „idiotische Nationalismus“ (S. 61), auch war es kein nobler, großartiger Idealismus. „Community had to be found in real, shared, everyday experience.“ (ebd.)
Gemeinsame alltägliche Erinnerungen dieser Art werden seltener. Denn die meisten beziehen sich auf den öffentlichen Raum, Orte, die alle betreten können. Digitale Technologien halten uns an Bildschirmen fest. Sparprogramme der öffentlichen Hand lassen die soziale Infrastruktur wie Plätze, Parks, Schwimmbäder kleiner werden. Beides führt dazu, dass der Einzelne vor allem personalisierte Bezugsmomente hat – die eben keine gemeinsamen Erfahrungen mit anderen sind. Der Preis ist, dass der Zusammenhalt in Gemeinschaften geringer wird.
Gemeinsame Erfahrungen als Basis
Stears ist sich bewusst, dass das Gemeinschaftsgefühl von Nationalist:innen ausgenützt wurde und werden kann. Aber wenn eine Gemeinschaft, auch eine nationale, sich aus dem Alltagsleben herausbildet, dann liegen ihr Überlegenheitsgefühle fern. Gemeinsame Erfahrungen, die unabhängig vom eigenen biografischen Hintergrund gemacht werden, wirken auch der Exklusion entgegen. Weitergehend plädiert der Autor für Investitionen in die gemeinsame Infrastruktur vor Ort, in die Qualität und Sicherheit der Angebote und dafür, dass sie für alle zugänglich sind.
Der Autor bezieht sich unter anderem auf Danielle Allen (Ausgabe 2020/4) und ihr Argument für eine „vernetzte Gesellschaft“. Darunter versteht Allen, eine Interaktionskultur, die dazu beiträgt, dass soziale Verbundenheit gelingt. Man muss aber auch wissen, dass ihr Konzept des „Polypolitanismus“ anspricht, dass politische Beteiligung sich oft auf mehr als eine gemeinsame Institution beziehen kann. Gerade bei der Diskussion über Migration wird für sie deutlich, dass das Ziel gleichberechtigter Teilhabe voraussetzt, dass Menschen die Möglichkeit besitzen, mehr als einer politischen Gemeinschaft anzugehören.
Noch gebe es genug, woraus gemeinsame Erfahrungen gespeist werden können. Das nimmt auch neue Formen an. Comedy-Fernsehserien, die unsere Verhaltensweisen parodieren, gehören genauso dazu wie das Flussufer, das seit wenigen Jahren gemäht und nun von Menschen in Beschlag genommen wird. Stears spricht von einer Hoffnung „grounded in the belief that ordinary people living everyday lives can achieve extraordinary things, for themselves, their communities, the nation, and the world. That hope is still very much alive.“ (S. 191)
Das Buch hat in Großbritannien Einfluss auf die Politik. Marc Stears war Berater der Labour Party, bevor Jeremy Corbyn Parteivorsitzender wurde. Es steht für eine Tradition, „Blue Labour“, die versucht, Sozialpolitik mit Ideen der Verantwortung und der Gemeinschaft zu verbinden, ohne dabei exkludierend zu werden.