Stephan Lessenich

Nicht mehr normal

Ausgabe: 2023 | 3
Nicht mehr normal

Vor dem Hintergrund einer die Welt bedrohenden Klimakatastrophe bricht eine Pandemie aus, und dann noch ein Krieg in Europa?

Ein Drehbuch mit einem solchen Plot wäre vor drei, vier Jahren wohl noch krachend abgelehnt worden. Doch beschreibt dieses Szenario nur die neue Normalität unserer Welt, eine Normalität, die eben darin besteht, dass nichts mehr normal ist. Das ist das Thema des neuen Buchs von Stephan Lessenich: Nicht mehr normal. Darin geht es darum, „wie eine Gesellschaft damit umgeht, dass ihr die bisherige Normalität abhandenkommt“ (S. 12). Deutschland heute, das sei „eine Gesellschaft, deren Normalitätsproduktion ins Stocken geraten ist“, so der Soziologe, „eine Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht denken kann“ (S. 37). Dem spürt der Autor entlang der Themen Finanzkrise, Migration, Klimakrise und Aufbegehren gesellschaftlicher Minderheiten und, natürlich, vor dem Hintergrund der Coronakrise nach. Immer geht es dabei um die „soziale Konstruktion von Normalität“ (S. 14), um Normalität als soziale Praxis, die aber, so macht das Buch deutlich, auf Irrationalitäten basieren und Illusionen befördern kann.

Exemplarisch das Thema Klima und wie es so weit kommen konnte. Lessenich verortet den fundamentalen Widerspruch modernen Wirtschaftens darin, einerseits die Welt als Welt der Knappheiten darzustellen und die Ökonomie als effizienten Umgang mit knappen Mitteln zu verstehen, „zugleich aber, und zwar bis in die allerjüngste Vergangenheit hinein, in der Vorstellung ewig sprudelnder natürlicher Ressourcenquellen zu leben“ (S. 83). Die daraus resultierende akute Abhängigkeit des Wirtschaftsmodells von der beständigen Zufuhr riesiger Mengen an fossiler Energie „ist nicht weniger als die Signatur der Moderne“ (S. 85). Die industrielle Moderne beruhe maßgeblich auf einer „Kultur und Infrastruktur des Fossilismus“ (ebd.). Dieser aber steckt – und das ist das Resultat von Normalisierung als sozialer Konstruktion – in den Köpfen aller. Und so sind wir alle aufgefordert, „die Macht der Illusion zu brechen […] dass wir mit den alten Rezepten weiter-, ja auch nur ansatzweise durchkommen könnten“ (S. 129).