Narzissmus, Verführung, Macht in Politik und Gesellschaft:
Die Frage, warum gerade narzisstische Persönlichkeiten sehr häufig in Führungspositionen gelangen und warum wir der Verführungskraft solcher Menschen häufig unterliegen, beantwortet Bärbel Wardetzki in ihrem Essay über Narzissmus, Verführung und Macht. Die Psychotherapeutin denkt dabei nicht nur an Politiker wie Trump, Putin oder Erdogan, sondern an die vielen, die in Ämtern, Unternehmen oder auch Familien ihre narzisstische Position ausnutzen. Und sie sieht eine Wechselwirkung am Werk: „Narzisstische Strukturen in unserer Gesellschaft unterstützen die Entwicklung narzisstischer Auswüchse, aber auch umgekehrt: Je narzisstischer die Führung in Politik und Wirtschaft, umso hoffähiger wird narzisstisches Gebaren.“ (S. 14)
Was ist also problematisch am Narzissmus? Als Wesensmerkmal narzisstischer Menschen macht Wardetzki deren Unfähigkeit zur Empathie und deren Abgeschnittensein von der eigenen Identität aus. Das (Über-)Leben narzisstischer Menschen hänge an deren „grandioser Fassade“ (S. 15). Dabei unterscheidet sie „positiven“ Narzissmus im Sinne eines gesunden Selbstwertgefühls von „negativem“ bzw. malignem Narzissmus. Narzisstische Führung habe gerade in Krisenzeiten Hochkonjunktur und darin liege ihre Gefahr: „Sie punktet durch einfache Lösungen und lässt uns glauben, dass es allein an der eigenen Person läge, die Dinge wieder zurechtzurücken.“ (S. 22) Personenkult und grandiose Rettungsvorstellungen endeten aber häufig in Großmachtphantasien. Schwindet der Rückhalt in der Bevölkerung, könne es zu Aufständen kommen: „Die letzte Rettung ist dann das diktatorische Verhalten.“ (S. 23)
Systematische Ansätze als Antwort
Wir lebten in einer Welt des „Alles-Machbaren und des Besser-Seins“ (S. 27) – da schließt Wardetzki an Schmidbauer an –, und dies fördere das Auseinanderfallen von Sein und Schein. Es entstehe eine „Entleerung, die wir mit immer mehr Gütern auszufüllen suchen“ (S. 28). Die Anhäufung von Macht oder Geld zerstöre dabei den Gemeinsinn. Widerstand dagegen werde gelähmt, solange sich die Ausgeschlossenen mit den Mächtigen identifizieren: „Die Narzissten werden zur Projektionsfläche für all die unerfüllten Sehnsüchte der Feigen, Ängstlichen, Vergessenen, Abgehängten.“ (S. 38) Die Zugehörigkeit zu Gruppen wie Pegida wiederum habe eine selbstverstärkende Wirkung. Mithilfe der Gruppe und ihrer Ideologie werde das individuelle Selbstbild konstruiert, so Wardetzki: „Steht man auf der untersten Stufe in der Gesellschaft oder fühlt man sich zumindest so, muss man eine andere Gruppe finden, die noch weiter unten ist als man selbst. Dazu eignen sich Flüchtlinge und Zuwanderer aus anderen Nationen.“ (S. 120) Dabei kreuzten sich die Ängste der Fremdenhasser mit denen der Migranten. Denn auch Flüchtlinge oder Asylanten fühlten sich entwertet, am Rande der Gesellschaft und als Opfer der Verhältnisse, was den gegenseitigen Hass schüre und der Radikalisierung auch unter diesen Gruppen Vorschub leiste. Auch der „Islamische Staat“ verleihe jungen Menschen Omnipotenzgefühle und gleiche den Minderwertigkeitsstatus aus.
Was wären Antworten? Wardetzki plädiert für systemische Ansätze. Nicht Verurteilung und (weitere) Demütigung, sondern „Akzeptanz, Verstehen und Verständnis“ (S. 125) seien gefragt. Sich ausgeschlossen und abgewertet fühlende Menschen müssten darin unterstützt werden, Spannungen auszuhalten. Spaltungsmechanismen, wie sie derzeit verstärkt auch in vormals offenen Gesellschaften Platz greifen, bergen nach Wardetzki ein gefährliches „destruktives Gewaltpotenzial“ (S. 130). Es gäbe aber auch positive Effekte der Polarisierung: „Innerhalb der unterschiedlichen Lager rücken die Menschen, Parteien oder Staaten näher zusammen.“ (S. 131) Zudem gäbe es auch „förderliche Macht“, die nicht auf Unterwerfung aus sei, sondern das „Wohl und die Interessen der Gemeinschaft“ (S. 144) fördern wolle. Merkmale dieser positiven Macht: „Das große Ganze im Auge haben“, „Demut im Sinne von Sich-nicht-so-wichtig-Nehmen“, „Dialog- und Kompromissbereitschaft“, „ein Selbstwertgefühl, das auch ohne Anhäufung von Macht, Bewunderung und Rampenlicht Stabilität besitzt“ (S. 145f.).
Wardetzki schließt ihren Essay in diesem Sinne mit „drei Plädoyers“ für ein starkes Selbstbewusstsein, für die Demokratie und ein einiges Europa sowie für die Gemeinschaft. Mit letzterer meint sie das gemeinsame Reden über Ängste ebenso wie das gemeinsame Suchen nach Lösungen; beides habe eine „beruhigende Wirkung“ (S. 163). Der am Ende der Ausführungen zitierte Satz von Jimi Hendrix „Wenn die Macht der Liebe über die Liebe zur Macht siegt, wird die Welt Frieden finden“, ist noch nicht die Lösung, aber er könnte die Richtung andeuten.
Von Hans Holzinger
Wardetzki, Bärbel: Narzissmus, Verführung und Macht in Politik und Gesellschaft. Berlin u.a.: EuropaVerl., 2017. 174 S., € 12,90 [D], 13,20 [A] ; ISBN 978-3-95890-234-6